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Archiv-Artikel

„Stinksauer“ oder flächentariflos glücklich?

Vor der Entscheidung über einen Streik für die 35-Stunden-Woche zeigen sich die ostdeutschen Metallarbeiter uneinig

DRESDEN taz ■ „Die Stimmung in der Belegschaft ist gespalten“, sagt René Vits. Der Betriebsratsvorsitzende beim Autozulieferer Federal Mogul in Dresden, der zugleich SPD-Stadtrat und Mitglied der Großen IG-Metall-Tarifkommission ist, zählt selbst nicht gerade zu den Scharfmachern.

Vits hat für seine 315 Kollegen einiges erreicht: Der Kolbenringhersteller aus den USA hält hundertprozentige Tariftreue und ist Mitglied im Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie (VSME). Anfang der 90er-Jahre hat die Belegschaft sogar gegen die Treuhand gestreikt, um von den Amerikanern übernommen zu werden – inklusive der relativ gut funktionierenden Gewerkschaftsstruktur aus DDR-Zeiten.

Der eine Teil der Belegschaft, so Vits, möchte das Erreichte nicht aufs Spiel setzen. Das verbreitete Totschlagargument, dass die Produktion im Streitfall ins billige Osteuropa verlegt werden könne, zeige Wirkung. „Die anderen aber wollen es jetzt wissen.“ Über ein Jahr länger als die Westkollegen haben die Dresdner seit 1990 gearbeitet.

Die „Sächsische Sondernummer“ des VSME habe dazu beigetragen, ein Alles-oder-nichts-Gefühl zu verstärken, meint der Betriebsratschef. Der sächsische Metallarbeitgeberverband hat zu Jahresbeginn den kompletten Manteltarif gekündigt. „Wenn wir jetzt umfallen, fallen wir womöglich hinter den alten Tarif zurück.“ Wie schon beim Warnstreik in der Vorwoche erwartet Vits deshalb bei der Urabstimmung, die die große Tarifkommission nächsten Dienstag wohl beschließen wird, breite Streikbereitschaft.

„Wir haben kein Mühe, die Leute rauszubringen“, bestätigt Betriebsratsvorsitzender Harald Lieske vom Thüringer Opelwerk in Eisenach. Auch General Motors droht indirekt mit seinen neuen Russland-Standorten. Die Beschäftigten wollen sich aber nicht länger als Metaller zweiter Klasse fühlen – zumal die Produktivität im modernen Eisenacher Werk über der westdeutschen liegt.

Völlig unberührt von den Tarifauseinandersetzungen zeigt sich die Fahrzeugelektrik im sächsischen Pirna. Schon vor zehn Jahren ist der Betrieb mit seinen gut 200 Mitarbeitern aus dem VSME ausgetreten „und damit besser gefahren“. Das meint jedenfalls Geschäftsführer Wolfgang Osterode. Gewerkschaften haben praktisch keinen Einfluss. Inzwischen ist die Arbeitszeit von 39 sogar wieder auf 40 Wochenstunden angehoben worden. Sonst aber gibt es 30 Tage Urlaub und einen variablen Lohnteil von etwa 2.500 Euro im Jahr, gestaffelt nach Leistung und sozialer Bedürftigkeit.

Mit einer Behindertenquote von 7 Prozent gehört die Fahrzeugelektrik seit je zu den sächsischen Vorzeigebetrieben. Der Geschäftsführer zeichnet ein Idyll: „Wenn es dem Betrieb gut geht, partizipieren alle.“ Deshalb sei auch die Belegschaft zufrieden. Betriebsrat Jürgen Mocker relativiert die jährlichen Lohnerhöhungen von 2 bis 3 Prozent im Haustarif jedoch: Sie erfolgten von der sehr niedrigen Basis von ursprünglich 8 Mark pro Stunde.

9 von 10 ostdeutschen Betrieben verfahren inzwischen so wie die Pirnaer, auch wenn sie nur etwa ein Drittel der Arbeitnehmer repräsentieren. Ginge es nach den Arbeitgebern, würden sie so zum Totengräber des Flächentarifs. Nach Informationen der Berliner IG-Metall-Bezirksleitung drängt der VSME sogar seine Mitglieder zum Austritt, um sich im tariflosen Ersatzverband „Sachsenmetall“ wieder zu sammeln. Bezirksleiter Hasso Düvel weiß von „stinksauren“ Belegschaften, die endlich die Schließung einer „Gerechtigkeitslücke“ fordern. Verlassen kann sich die Gewerkschaft bei einem Streik absehbar nur auf größere Betriebe oder westdeutsche Konzerntöchter.

MICHAEL BARTSCH