Leben unter dem Äquivalenzeinkommen

Der neue Armutsbericht des Statistischen Landesamtes rechnet vor, was ohnehin alle wissen: Berlin ist arm. Und am ärmsten ist Kreuzberg. Hier kumulieren die Armutsrisiken – von der Erwerbslosigkeit bis zum nichtdeutschen Pass

Berlin ist ärmer geworden. Das geht aus einer Erhebung des Statistischen Landesamtes hervor. Die so genannte Armutsquote ist von 1996 bis 2002 um 1,5 Prozent gestiegen und liegt nun bei 15,6 Prozent. 533.000 Menschen in der Stadt – etwa jeder Siebte – sind davon betroffen. Dabei verlief diese Entwicklung nicht kontinuierlich. Bis 1999 wurde ein Rückgang der statistisch erfassten Armut um 0,6 Prozent beobachtet. Bezogen auf den Dreijahreszeitraum von 1999 bis 2002 hat die Armut in der Stadt demnach sogar um 2,1 Prozent zugenommen.

Nach einer von der EU verwendeten Definition gilt als arm, wer weniger als die Hälfte des so genannten Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. In Berlin liegt dieser statistische Wert bei 1.213 Euro in einem Ein-Personen-Haushalt. Alleinstehende, die von 606 Euro im Monat leben müssen, fallen demnach bereits in die Armutskategorie. Bei einem Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 15 Jahren liegt das Äquivalenzeinkommen bei 3.272 Euro. Arm ist eine Familie bei dieser Berechnung also, wenn sie weniger als 1.636 Euro im Monat zur Verfügung hat.

Vergleichszahlen mit anderen Städten liegen nicht vor. Aus einer Erhebung von 1998 zum durchschnittlich verfügbaren Einkommen eines Ein-Personen-Haushalts ist allerdings ersichtlich, dass die Armut in Berlin auch strukturell verankert ist. Bundesweit galt damals, dass eine Person durchschnittlich 2.900 Mark zur Verfügung hatte, in Berlin waren es 2.100 Mark. Ähnliches bestätigt ein Vergleich der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte. Für Hamburg, das gerne herangezogen wird, wenn es um Ausstattungsvorteile Berlins im Vergleich mit anderen Großstädten geht, gilt: Jeder der dortigen Haushalte hat im Durchschnitt fast 4.000 Euro mehr pro Jahr zur Verfügung als ein Berliner Haushalt.

Die meisten Berliner Armen, 28,1 Prozent, wohnen in Kreuzberg. Für die dortige Bevölkerung gelten verstärkt alle Armutsrisiken – als da sind: Erwerbslosigkeit, fehlender Schul- und/oder Berufsabschluss, Jungsein, ausländische Staatsangehörigkeit. Am langfristigen landesweiten Durchschnitt allerdings wird beobachtet, dass die Armutsquote in Kreuzberg leicht abgenommen hat. Am stärksten gestiegen ist sie in Schöneberg, auf derzeit 23 Prozent.

Der einzige berlinspezifische Faktor, der nicht in die Armutsberechnungen einfließt, ist der niedrigere lokale Preisindex bezogen auf Mieten und Nahrungsmittel. Der mag jedoch nur deshalb nicht ins Gewicht fallen, weil in Berlin die indische Armutsdefinition noch nicht gilt: Dort ist arm, wer weniger als drei Handvoll Reis pro Tag zur Verfügung hat – unabhängig davon, ob er ein Dach über dem Kopf hat oder nicht, wie Horst Schmollinger vom Statistischen Landesamt berichtet. WALTRAUD SCHWAB