Pathologie und Pathos

Nur mit Knochensäge: Patricia Cornwell, Kathy Reichs und ihre Kolleginnen sorgen mit ihren in der Welt der Gerichtsmedizin spielenden Krimis für Horror unter Laborbedingungen – und verhelfen so der guten alten Detektivgeschichte zu neuen Ehren

von KOLJA MENSING

„Ich bin Gerichtsmedizinerin“, stellt sich Dr. Kay Scarpetta einer Zeugin vor. Weitere Erklärungen sind nicht nötig, die Frau sieht Fernsehen: „Wie Quincy! Die Serie hat mir gefallen. Erinnern Sie sich an die Folge, wo er alles über eine Person aus einem einzigen Knochen ablesen konnte?“

Die Szene findet sich in „Das letzte Revier“, dem jüngsten der elf Scarpetta-Thriller von Patricia Cornwell. Inzwischen dürfte die italienischstämmige Chefpathologin genauso bekannt sein wie der crime-fighting coroner aus dem Fernsehen: Patricia Cornwells Romane sind Bestseller, und die Amerikanerin darf trotz der Vorarbeit, die die Drehbuchautoren von „Quincy“ in den späten Siebzigerjahren geleistet haben, als Begründerin eines neuen Krimi-Genres gelten. Es handelt sich dabei um den medical thriller, in dem die fast ausschließlich weiblichen Hauptfiguren von Berufs wegen mit der Untersuchung von Leichen beschäftigt sind.

Der medical thriller boomt: Nicht nur die Romane von Patricia Cornwell, sondern auch die von Kathy Reichs, Iris Johansen und anderen Autorinnen verkaufen sich ausgezeichnet. Jetzt erscheinen die ersten deutschen Krimis aus der Welt der Gerichtsmedizin, und im Fernsehen machen seit einiger Zeit Serien wie „Crossing Jordan“, „Diagnose: Mord“ oder „Der letzte Zeuge“ den Wiederholungen von „Quincy“ Konkurrenz. (Hier überwiegen allerdings die Männer.) Sogar der „Tatort“ hat den Gerichtsmediziner jetzt als eigenständige Figur eingeführt und lässt Jan-Josef Liefers in Münster Leichen sezieren.

Warum hat das neue Genre so einen Erfolg? Auf den ersten Blick gehorcht es bekannten Regeln. Literarhistorisch gesehen wird man im medical thriller zunächst einmal eine Wiederkehr der guten alten Detektivgeschichte in der Tradition von Arthur Conan Doyle erkennen. Sherlock Holmes wurde vor gut hundert Jahren zum Vorbild für zahllose Detektivfiguren. Akribisch sammelt er Indizien und Beweise und zieht am Ende eindeutige, logische Schlussfolgerungen. „Du kennst meine Methode“, erklärt Holmes: „Sie beruht auf der Berücksichtigung von Kleinigkeiten.“

Aus eben diesen Kleinigkeiten besteht auch die Arbeit von Kay Scarpetta und ihren Kolleginnen. Von der Frage, was für Spuren ein tödlich verwundeter Mensch hinterlässt, der über einen Betonboden geschleift wird, über die Untersuchung von Knochen, Gewebeproben und Körperflüssigkeiten bis hin zur Analyse von DNS-Proben mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion führt der Weg der Ermittlungen in „Das letzte Revier“. Kay Scarpetta sucht einen Serienmörder mit einer Vorliebe für schmerzhafte Bissverletzungen. Spätestens als zwei verschiedene DNS-Profile aufgrund von Haar- und Spermaproben erstellt werden, wird aus dem Fall eine Puzzle-Aufgabe, wie sie Holmes gefallen hätte. Offenbar gibt es einen zweiten Täter, der mit dem ursprünglich Verdächtigten in enger Verwandtschaft steht: „Der Rest ist Deduktion …“

Während der medical thriller an ältere Traditionen der Kriminalliteratur anschließt, hat er mit einer neueren Entwicklungslinie radikal abgeschlossen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren verschafften viele Thrillerautoren – allen voran Thomas Harris mit „Schweigen der Lämmer“ – ihren Lesern einen Flirt mit dem Bösen. Sie erzählten entweder gleich aus der Perspektive des Täters, der in den meisten Fällen wie Hannibal Lecter ein psychopathischer Serienkiller war, oder erschlossen diese Perspektive über den Umweg des Profiling. Solche Methoden werden in den medical thrillers ausgeschlossen: „Psychogewäsch“ heißt es in Kathy Reichs’ jüngstem Krimi „Knochenlese“ über das Gutachten eines Polizeipsychologen.

Reichs’ Serienfigur, die forensische Anthropologin Tempe Brennan, hält sich lieber weiter an die Laborberichte: Warum sollte man sich auch in die Psyche des Täters versetzen, wenn man seine DNS bereits analysiert hat – beziehungsweise seinen Opfern im wörtlichen Sinne „in den Kopf sehen“ kann? Das ist der Thrill, der in der Gerichtsmedizin auf den Leser wartet. „Ich stecke eine Stryker-Säge in die Kabeltrommel“, lässt Cornwell Kay Scarpetta eine Autopsie recht anschaulich beschreiben, „Heißer Knochenstaub schwebt durch die Luft, und die Schädeldecke löst sich mit einem saugenden Laut und entblößt die Windungen des Gehirns.“ Das eigentlich Faszinierende an diesen grausamen Szenen ist, dass sie reine Routine sind – „Arbeit am Körper“, wie die es die historische Anthropologin und erste deutsche „Knochensammlerin“ Franka Friedland in Krystyna Kuhns „Die vierte Tochter“ lapidar zusammenfasst.

Auf den abwaschbaren Stahltischen der Gerichtsmedizin werden die Auswirkungen eines Gewaltverbrechens bis ins letzte unappetitliche Detail dokumentiert und dem ohnehin versehrten Körper dann gewissermaßen im Dienste der Wahrheitsfindung weiter Gewalt angetan. Insofern ist der medical thriller nicht nur eine Wiederbelebung der Detektivgeschichte unter Berücksichtigung der modernen forensischen Wissenschaften. Trotz der Abkehr vom psychologischen Paradigma arbeiten Cornwell, Reichs und die anderen Autorinnen an einer zuweilen eindrucksvollen Fortschreibung der brutalen Serienkiller-Romane und -Filme der letzten zwanzig Jahre, in denen mit dem voyeuristischen Blick der Leser gespielt wurde. Kay Scarpetta: „Wenn der Pathologe nicht vor Gericht auftritt, dann ist in gewissem Sinn auch die Leiche nicht anwesend, und die Geschworenen sind nicht gezwungen, sich das Opfer einer Gewalttat und seine Qualen vorzustellen.“

Selbstverständlich darf auch der Leser an dieser Vorstellung teilhaben und sich sicher sein, dass die Vorgänge im Autopsiesaal die Brutalität des Verbrechens toppen: „Ein Angriff nach dem Tod“, heißt es bei Kathy Reichs, „der alles übertraf, was sie am Ende ihre Lebens vielleicht hatte erleiden müssen.“ Das ist Horror unter Laborbedingungen. Die unterkühlte Inszenierung des Todes wird jedoch in den medical thrillers nicht durchgehalten und zerbricht an der doppelten Handlungsführung, die allen Werken dieses Genres zu eigen ist. Neben die Jagd nach dem Verbrecher tritt nämlich stets die Suche nach Identität des zunächst unbekannten Opfers. Diese Recherche wird mit weit mehr Herzblut unternommen. In Iris Johansens Krimi „Knochenfunde“ arbeitet die Forensikerin Eve Duncan zum Beispiel fast über die ganze Länge des Romans an der Rekonstruktion eines Schädels, dem einzigen Überrest einer Leiche. In die Auseinandersetzung mit dem Mörder gerät sie nur unfreiwillig. Die Aufgabe, der Eve Duncan sich mit „Leib und Seele“ widmet, ist es, dem Toten wieder ein Gesicht zu verschaffen und ihn auf diese Art „nach Hause zu bringen“ – eine Pathosformel, die Tempe Brennan und Kay Scarpetta nur wenig variieren: Sie wollen ihren Toten „einen Namen geben“.

Diese großen Gefühle werden insbesondere in Kathy Reichs’ „Knochenlese“ ausführlich ausgebaut. Der Hintergrund der Geschichte, in der es um den illegalen Handel mit Stammzellen geht, ist ein Projekt in Guatemala, an dem Tempe Brennan als forensische Anthropologin teilnimmt. Mit Kollegen soll sie am Rand eines kleinen Dorfes nach den sterblichen Überresten von Bürgerkriegsopfern suchen. Als eine alte Frau ihr von einem Massaker erzählt, bei dem sie ihre ganze Familie verloren hat, ist das selbst für Tempe zu viel: „Ich bin durchaus gewöhnt an den Tod und das, was nach ihm kommt. Ich bin vertraut mit seinem Geruch, seinem Anblick, mit seiner Bedeutung. Ich habe gelernt, mich emotional zu stählen, damit ich meinen Beruf ausüben kann. Aber diese alte Frau durchbrach meinen Schutzwall.“

Das sind die Momente, an denen die Heldinnen des medical thriller trotz OP-Maske und virenresistentem Mega-Shield-Kittel die professionelle Distanz zum Tod verlieren. Bei Kathy Reichs ist es ein politisch motivierter Massenmord und bei Patricia Cornwell die Leiche eines kaltblütig ermordeten Kindes, in Krystyna Kuhns „Die vierte Tochter“ der Tod der besten Freundin und in Iris Johansens „Knochenfunden“ der Verlust des eigenen Sohnes.

Natürlich sind diese emotionalen Einbrüche einer Bestsellerlogik geschuldet, die nach anrührenden Elementen verlangt. Das Aufeinandertreffen von Pathologie und Pathos spiegelt allerdings auch die Ambivalenz einer zutiefst wissenschaftsgläubigen und säkularisierten Gesellschaft wider, die den Tod zwar entzaubert hat, ihn aber trotzdem fürchtet. Vielleicht ist es beruhigend, sich „den Tod und das, was nach ihm kommt“ so ausführlich vor Augen zu führen, wie es ein Blick über die Schulter von Tempe Brennan und ihren Kolleginnen ermöglicht.

In diesem Sinne sind die medical thriller Teil jenes größeren nekrophilen Zusammenhangs, zu dem auch die umstrittene „Körperwelten“-Ausstellung des Heidelberger Anatomieprofessors Gunther von Hagens und seine öffentlichen Sektionen in London und München gehören – und auch die gerade erst in den Medien bestaunten US-Forensiker, die im Irak den CIA bei der Suche nach Saddam Hussein oder seiner Leiche unterstützen. Es ist die einstmals religiöse Gewissheit, die hier zwischen Beststellerlisten und den Wissenschaftsteilen der Zeitungen wieder auflebt: Death is not the end. Die eigentliche Show beginnt nach dem Tod.

Patricia Cornwell: „Das letzte Revier“. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002. 477 S., 21,90 € Iris Johansen: „Knochenfunde“. Aus dem Amerikanischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. List, München 2003. 364 S., 22 € Kathy Reichs: „Knochenlese“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr. Blessing, München 2003. 382 S., 23 € Krystyna Kuhn: „Die vierte Tochter“. Piper, München 2003. 282 S., 13 €