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Archiv-Artikel

Ein Werk der Askese

Wandel im Ewiggleichen: „Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling“, der neue Film des koreanischen Regisseurs Kim Ki-Duk, erzählt fünf Geschichten von Geburt, Wachstum und Verfall parallel zum Ablauf der Jahreszeiten. Das ist schön, doch irgendwann schlagen Ideologie und Mythos zu

Am Ende werden Sätze zu Maximen, Ästhetik zu Essenz und Geschichte zu Natur

VON HELMUT MERKER

Eine Tür, darauf, in vollendeter Symmetrie, ein Gemälde mit zwei martialischen Figuren in kriegerischen Masken, die muskulösen Körper, von schlangenartigen Fabelwesen umrahmt, in wilder Bewegung festgehalten. Die Tür öffnet sich und gibt den Blick frei auf den Ort der Handlung: von der Bootsanlegestelle, der einzigen Verbindung zur übrigen Welt, zu dem Haus auf der winzigen Insel inmitten des kleinen Sees.

Die erste Einstellung mit Wasser, Wald, Bergen, Himmel, Wolken: eine Preziose, wie hingetuscht, eine Bühne für das, was hier geschehen wird. Abstrakt und konkret zugleich: Landschaftsmalerei und Spielort. Eine Märchenkulisse und die ganze Welt, ein eng bemessener Bezirk und ein Brennglas für eine Lebensversuchsanordnung. Die Kamera wird nie über die selbst gesetzten Grenzen hinausgehen, sooft sich auch die Blicke in unsichtbare Fernen richten. Die Tür wird sich immer wieder öffnen und schließen und damit Wendepunkte des Gefühls und der Handlung markieren. Sie kündigt jeweils die fünf Akte an: „Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling“ – deutlicher kann kein Titel den ständigen Wandel im Ewiggleichen ausdrücken. Dabei ist das Leben keineswegs ein ruhiger Fluss.

Der Film beginnt mit der Frühlingsidylle eines paradiesischen Morgens und endet mit einem religiösen Symbol, dazwischen aber liegt das Drama von Leben und Tod, Verbrechen und Strafe, Qual und Erlösung. Ein alter Mann und ein kleiner Junge in dem Haus, das sind Mönch und Zögling, die zusammen im Tempel leben.

Frühling: Der Knabe und der alte Mönch, der ihn ins Leben einweist. Als der Kleine nicht bloß Kräuter im Wald sammelt, sondern kleine Tiere quält, wird er dafür von dem Alten bestraft.

Sommer: Das Kind ist herangewachsen; eine Frau liefert ihre Tochter bei dem Alten ab, der sie von einer mysteriösen Krankheit befreien soll. Junge und Mädchen entdecken Liebe und Sex, sie wird geheilt und kann wieder in die Welt zurück. Er will nicht von ihr lassen und flieht mit ihr.

Herbst: Der Junge kommt als Erwachsener zurück, wieder auf der Flucht. Er hat seine Frau getötet, weil sie ihn betrogen hat. Der Meister straft ihn, zwei Polizisten spüren ihn auf und führen ihn ab. Der Meister fühlt seine Zeit gekommen und stirbt.

Winter: Nach Jahren im Gefängnis kehrt der Protagonist als älterer Mann zurück. Der See ist zugefroren. Eine Frau mit verhülltem Gesicht kommt vorbei und liefert einen neugeborenen Jungen ab. Auf dem Rückweg fällt sie in ein Eisloch; sie ertrinkt und erfriert. Der Alte nimmt sich des Babys an.

Und Frühling: Wieder weist ein alter Meister seinen Schüler ins Leben ein.

Fünf Geschichten von Geburt, Wachstum und Verfall parallel zum Ablauf der Natur. Immer spiegelt sich das eine im anderen wider: Der Tag wird zur Metapher für das Jahr, die Jahreszeiten werden zur Metapher für ein Menschenleben. Letzte Dinge in exotischer Einfachheit. Die Figuren sind nach innen gekehrt, der Film lebt von der Stille. Elementare Emotionen und elementares Kino. Ein Werk der Askese.

Minimale Abweichungen im üblichen Verhalten: wie einer in den Wald hineinruft oder zornig einen Schlag ins Wasser tut oder ergeben eine Last auf dem Rücken trägt. Gefühlserregungskunst und wie sie sich in der Natur äußert, zumal im wichtigsten Element, dem Wasser. Alle Stadien zwischen Begehren, Abwehr, Verlangen und Erfüllung, von der spielerischen Annäherung bis zur sexuellen Vereinigung, finden in der Sommer-Episode am oder im Wasser statt. Wild rudert der junge Mann im Kreis, als er sich abgewiesen fühlt, sanft schlafen beide zusammen im Boot ein, wenn er und die junge Frau sich einig sind.

Ein magischer Moment im Herbst, wenn die Polizisten ihn abholen und angestrengt losrudern: Zuerst kommen sie nicht von der Stelle, bis der Meister zum Abschied winkt und den Bann löst. Die Türen schließen sich hinter den dreien, und das Boot kehrt von allein zurück. – Im Winter, wenn alles um den Protagonisten herum in Eiseskälte erstarrt ist, trainiert er halbnackt in tänzerischer Gymnastik seinen Körper, und das fahle blaue Licht entrückt das filmische Zentrum vollends allen gewohnten Natur-Impressionen.

Kim Ki-Duk kommt aus Korea und ist auf dem besten Wege, hierzulande der berühmteste aller unbekannten Regisseure zu werden. Mit „Samaria“, einem düsteren Porträt der koreanischen Gesellschaft, gewann er gerade bei den Berliner Filmfestspielen den Silbernen Bären für die beste Regie. Einen ersten Eindruck von seiner archaisch wilden Bilderwelt voller Brutalität vermittelte „Die Insel“ (2000), eine masochistische Liebesgeschichte, in der ein Angelhaken zum schockierenden Utensil der Aggression und Selbstverstümmelung wurde. „Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling“ spielt an einem ähnlichen Schauplatz mit Extremen menschlichen Treibens, zeigt aber gewissermaßen einen dramatischen Gegenentwurf des Regisseurs zu seinen gequälten Kreaturen. Das schlimmste Leiden liegt hier in den Ellipsen zwischen den Jahreszeiten, und diese Auslassungen machen es nicht weniger eindrücklich, auch wenn das düstere Geschick immer wieder durch ironische Einfälle aufgeheitert wird.

Als sich der Junge das erste Mal nachts zu dem Mädchen ins Bett schleicht, öffnet er vorsichtig eine Tür, und die knarrt. Um den Alten nicht aufzuwecken, geht er einfach durch die Wand, denn Wände gibt es innerhalb des Tempels nicht wirklich, sie wurden zuvor bloß immer imaginiert und anerkannt. – Als die Polizisten vor dem Abtransport ihres Gefangenen aus lauter Langeweile mit ihren Pistolen auf eine im Wasser schwimmende Blechbüchse ballern, verfehlen sie ihr Ziel. Daraufhin unterbricht der Meister kurz seine Arbeit, hebt einen Stein auf, wirft und trifft. – Gelassen setzt er später seine Tätigkeit fort; er malt nämlich den ganzen Tempelboden mit heiligen Schriftzeichen aus, und als Pinsel für sein kalligrafisches Werk benutzt er die Schwanzspitze einer weißen Katze. Die maunzt empört, aber vergeblich.

Das schlimmste Leiden liegt in den Ellipsen zwischen den Jahreszeiten

Mit äußerstem Stilwillen und wenigen Worten erzählt Kim Ki-Duk seine Geschichten. Die erlesenen Bilder schlagen einen in den Bann, aber bevor man vollends ihrem Zauber verfällt, lohnt es sich dennoch, auch genau hinzuhören. Denn wo der gesamte Dialog praktisch auf eine Postkarte passt, bekommen einige Sätze ein besonderes Gewicht. Der Knirps vom Frühlingsanfang mit seinem runden Mondgesicht, den abstehenden Ohren, den großen Augen und kleinen Zahnlücken neben dem ernsten Meister, hager und kahl; der kleine, mutige Erforscher seiner Umwelt neben dem weisen Beobachter; die Großaufnahmen ihrer Gesichter ebenso wie die Totalen mit den beiden kleinen Figuren in der Natur: Alles vermittelt den Eindruck von gegenseitiger Fürsorge, Geborgenheit und Vertrauen. Als der unternehmungslustige Kleine in die Welt wieselt, schwenkt die Kamera immer wieder zurück nach oben zu dem Alten, der ihn betrachtet und behütet. Bis er ihn ertappt, wie er seine grausam-kindlichen Späße mit wehrlosen Tieren treibt: er bindet ihnen Steine an den Körper.

Wir sehen also, wie der Meister bekümmert zusieht, wie der Kleine gespannt zusieht, wie die Tiere sich abmühen. Der Meister greift nicht direkt ein, sondern bindet in der Nacht dem Jungen einen Stein auf den Rücken. Dieses Gleichnis macht alles klar. Der Junge wacht auf und erkennt: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Der Betrachter denkt: eine drastische Pädagogik, so lernt ein jeder seine Lektion fürs Leben. Aber was für eine Moral steckt dahinter? Der Meister schickt den Jungen los, mit dem Stein auf dem Rücken die Tiere zu suchen und zu befreien, und warnt: „Wenn eines stirbt, der Fisch, der Frosch oder auch die Schlange, dann wirst du dein Leben lang diesen Stein auf deinem Herzen tragen.“

Unter großer Anstrengung macht sich der Junge auf den Weg, zwei der Tiere sind tot, er begräbt und betrauert sie. Wieder steht der Meister beobachtend hinter ihm, wieder schwenkt die Kamera hoch, aber während er zuvor als Schutzschild wirkte, erscheint er nun als rächende Nemesis. Die alte Hitchcock-Regel: Die gleiche Einstellung, der gleiche Gesichtsausdruck, sie können höchst unterschiedliche Wirkungen beim Zuschauer hervorrufen, je nach dem, in welchen Zusammenhang sie eingeschnitten sind. Und fortan liegt die Drohung, die fast eine Verwünschung ist, als Schicksal über dem ganzen künftigen Leben des kleinen Jungen. Verstärkt wird das noch, als der alte Mönch die Sexualität der beiden jungen Menschen wahrnimmt und prophezeit: „Aus Begierde entsteht Abhängigkeit, und daraus erwachsen Mordgedanken.“

Das lässt einem kaum noch einen Ausweg. Sätze werden zu Maximen, Zeichen zu Zwängen, Voraussagen zu Determinationen. Wer kleine Tiere ärgert, bringt auch seine Frau um. Fast hat man den Eindruck, der eine, der so klug ist, alles vorher zu wissen, lässt den anderen, der so unschuldig ist, vorher nichts Böses zu ahnen, in die Falle laufen. Der fröhliche Junge vom Anfang wird zum ernsten Mönch, durch Schuld und Sühne, auf dem vorgeschriebenen Wege der Selbstfindung und Kontemplation.

Wenn er zuletzt unter großen Mühen einen Mühlstein und eine Götterstatue auf den höchsten Berg schleppt und Engels-Chöre „omi mane padme hum“-Gesänge anstimmen, die sich so ähnlich wie der Originaltitel des Filmes anhören („Bom, Yeoreum, Gaeul, Gyeowool, Geurigo, Bom“), dann schlagen endgültig (buddhistische) Ideologie und Mythos zu. Die cineastische Vision der sinnbetörenden Bilder-Schönheit hat ihr zweifelhaftes Ziel erreicht: Ästhetik wird Essenz, Geschichte wird zur Natur. Dialektik oder Komplexität der menschlichen Handlungen werden geleugnet, wenn der Ablauf der Welt als unabänderlich begriffen wird. Der Mensch ist eingesperrt in die zyklische Wiederholungsstruktur, in der sich alles der tautologischen Erklärung unterwirft: Es ist so, wie es ist.