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Archiv-Artikel

Krank, allein, abgewiesen

Die Klinik will 8.000 Yuan im Voraus. So viel verdienen viele im ganzen Jahr nicht

aus Peking JUTTA LIETSCH

Als sie die ersten Anzeichen des Fiebers spürt, hat Cui Lei nur einen Gedanken: „Hoffentlich ist es nicht SARS!“ Gerade haben die Pekinger Behörden erstmals zugegeben, dass die gefährliche Lungenentzündung bereits viel weiter in der Hauptstadt verbreitet ist, als bislang bekannt war.

Die Panik, die Chinas Hauptstadt an diesem Tag, dem 21. April, erfasst, hat das Dorf Dongxu Xincu noch nicht erreicht. Hier absolviert die 28-jährige Cui ein Praktikum in einem Institut für autistische Kinder. Obwohl es Gerüchte gegeben hat, fühlten sich die Mitarbeiter hier sicher, 25 Kilometer vom Zentrum entfernt. „Damals hieß es, die Krankheit sei auf die Stadt beschränkt“, erinnert sich die Leiterin des Instituts, Tian Huiping: „Wir dachten: Peking ist weit weg!“

Die Hoffnung sollte sich nicht erfüllen: Die Praktikantin ist am Schweren Akuten Atemwegssyndrom SARS erkrankt. Wenn ihre Chefin Tian, die seither in Quarantäne ist, heute am Telefon von den Ereignissen berichtet, wird ihre Stimme ganz brüchig: „Ich würde das nicht noch einmal überstehen“, sagt die Institutsleiterin. Dabei ist die 45-jährige Germanistin keineswegs leicht aus der Bahn zu werfen: Nachdem sie selbst ein autistisches Kind bekommen hatte, gründete sie nach ihrer Rückkehr aus Deutschland vor 10 Jahren in China das erste und einzige private Zentrum für autistische Kinder, das „Stern & Regen Bildungsinstitut für Kinder mit Autismus“. Zäh hat sie seither gegen Vorurteile gekämpft – in einem Land, das wenig Mitleid mit Kranken und Schwachen hat. Bei „Stern & Regen“ erhielten 2.000 chinesische Familien erstmals in ihrem Leben Unterstützung im Umgang mit der Behinderung. Heute ist das Institut geschlossen.

Als Cui an jenem 21. April zu ihrer Chefin geht, ahnt sie Schlimmes. Mehrere Angehörige ihres Vermieters sind bereits an Fieber erkrankt. Nun steigt auch bei ihr die Temperatur – erst sind es 37 Grad, dann über 38.

„Als ich das hörte, bekam ich schreckliche Angst“, sagt Tian. Denn in ihrem Institut ging gerade ein Drei-Monats-Kurs zu Ende, an dem 50 autistische Kinder mit ihren Eltern teilgenommen hatten. Die Gruppe bereitete sich darauf vor, in den nächsten Tagen per Flugzeug und Zug in alle Teile Chinas heimzureisen. Tians Sorge: Sie könnten das Virus verbreiten. Falls sie erkrankten, würden sie zudem in ihren Heimatorten schlechter versorgt werden als in der Hauptstadt.

Eilig wählt Tian die Telefonnummern der SARS-Notrufe, die in den Nachrichten genannt wurden. „Irgendjemand musste mir doch sagen können, wie ich mich verhalten sollte“, sagt sie. Aber sie erreicht niemanden, alle Nummern sind ständig besetzt.

Am nächsten Tag fiebert die Praktikantin immer noch. Tian rät ihr, ins Sino-Japanische Freundschaftshospital von Peking zu fahren, das zu den besten der Stadt zählt. Stundenlang wartet Cui, eng gedrängt zwischen anderen Patienten. Wie sich später erweist, stecken sich in diesen Tagen in den Pekinger Krankenhaus-Wartesälen hunderte Menschen gegenseitig an. Doch für Cui heißt die Diagnose: kein SARS. Cui kehrt ins Dorf zurück. Am Abend geht es ihr schlechter. Sie entscheidet sich abzuwarten. In der Nacht erkranken bei ihrem Vermieter weitere Angehörige: Verdacht auf SARS.

Am nächsten Morgen geht Cui Lei erneut zum Arzt, diesmal in einem anderen Krankenhaus im Zentrum Pekings, dem Xiehe. Obwohl sie vom SARS-Verdacht ihrer Gastfamilie berichtet, wird sie weggeschickt: Sie habe kein SARS. In einem dritten Hospital soll die fiebernde Frau sich chinesische Medikamente kaufen.

Nach Hause kann Cui nicht zurückkehren, denn der Ortsbürgermeister verwehrt ihr aus Angst vor Infektion den Zutritt zum Dorf. Schließlich nimmt das allgemeine Gemeindekrankenhaus sie auf. „Ich war glücklich“, entsinnt sich ihre Chefin Tian. „Endlich kümmerte sich jemand um Cui.“

Gleichzeitig wächst ihre Verzweiflung: Was soll mit den Kindern und ihren Eltern geschehen, die dringend abreisen wollen? Sie kann sie nicht hindern. Alle Versuche, Rat und Hilfe bei den Ämtern zu bekommen, bleiben ohne Erfolg. Niemand will etwas mit den unbequemen Behinderten zu tun haben.

Am nächsten Tag beginnt Cui, die inzwischen in der örtlichen Klinik als „SARS-Verdachtsfall“ eingestuft worden ist, Blut zu spucken. Draußen läuft derweil der Propaganda-Apparat warm. Die Partei versucht, Unruhen in der Stadt zu verhindern. Alle SARS-Patienten sollen nur in bestimmte Hospitäler kommen. Und: Kein SARS-Patient dürfe abgewiesen werden.

Als Tian ihre Mitarbeiterin in ein offizielles SARS-Krankenhaus bringen will, muss sie allerdings erfahren, dass die Verlautbarungen nicht der Wirklichkeit entsprechen: Die Gemeindeklinik will die Patientin nicht freigeben, obwohl sie ihr nicht helfen kann. Mittlerweile erfährt Cui, der das Atmen immer schwerer fällt, dass ihr Vermieter an SARS gestorben ist.

Tian bemüht sich weiter, ein besseres Hospital für ihre Mitarbeiterin zu finden. Eine befreundete Ärztin gibt ihr den Tip, dass noch ein Bett im Pekinger Xiehe-Krankenhaus frei ist. Die Klinik gilt als eine der besten der Stadt und soll SARS-Patienten aufnehmen. Cui darf die Gemeindeklinik verlassen.

Ihre Hoffnung wird böse enttäuscht. Die Besatzung des Krankenwagens besteht darauf, statt des Xiehe ein kleines Bezirkshospital anzusteuern, das nicht auf eine SARS-Behandlung eingerichtet ist. Erst nach langem Flehen der verängstigten Patientin erklärt sich die Ambulanz bereit, sie in ein offizielles SARS-Krankenhaus zu bringen. Das Pekinger You’an wird die fünfte Klinik, in der Cui Hilfe sucht.

Doch dort weigern sich die Ärzte, sie aufzunehmen. „Mein Vermieter ist gerade an SARS gestorben“, keucht sie – vergeblich. Die Mediziner schicken die Kranke, die ganz allein ist, auf die Straße zurück. In höchster Angst ruft sie über Handy ihre Chefin an. Die hört nur Weinen und schweres Atmen. Dann bricht die Verbindung ab. Eine Stunde später, es ist bereits spät am Abend, ist Cui wieder am Apparat. Auch das sechste, das Xiehe-Krankenhaus, hat sie abgewiesen.

Dass die junge Frau die Tortur überlebt, verdankt sie der Hartnäckigkeit ihrer Chefin und deren Beziehungen zu einflussreichen Leuten. Kurz vor Mitternacht schaltet Tian einen ausländischen Geschäftsmann ein, der das „Stern & Regen“-Institut seit Jahren finanziell unterstützt. Er nutzt seine guten Verbindungen zu hochrangigen Funktionären. Mitten in der Nacht ruft er sie an, schildert den Fall, droht mit der westlichen Presse. Mit Erfolg: Cuis Krankenwagen fährt erneut zum You’an-Hospital. Dort ist plötzlich doch ein Bett frei.

Dann ein neuer Schrecken: Das Krankenhaus fordert am nächsten Morgen von Cui einen Vorschuss von 8.000 Yuan (knapp 1.000 Euro) – obwohl die Regierung öffentlich verspricht, SARS-Patienten würden gratis versorgt. Das You’an droht ihr, die Behandlung sofort abzubrechen, falls sie nicht zahle.

8.000 Yuan – so viel verdienen viele Chinesen im ganzen Jahr nicht. Cui stammt aus einer armen Familie. Sie hat, wie die meisten Chinesen, keine Krankenversicherung. Die erschöpfte Frau ruft ihre Schwester an, um das Geld aufzutreiben. Die weiß nicht, woher sie es nehmen soll: Gerade ist Cuis Vater mit einer Herzkrankheit ins Hospital eingeliefert worden, und auch hier wurde eine hohe Summe fällig. Tian springt ein und schickt die Gebühren noch am selben Morgen ins Krankenhaus. Cui wird an ein Beatmungsgerät angeschlossen.

Durch die Intervention ihrer ausländischen Freunde ist die Kunde von Cuis Schicksal inzwischen bis an die Regierungsspitze gedrungen. An diesem Nachmittag tauchen plötzlich Vertreter der Gesundheitsbehörden bei „Stern & Regen“ auf. Staats- und Parteichef Hu Jintao habe sich persönlich der Sache angenommen, erklären sie.

Nun sind die Funktionäre auch bereit, sich Tians Sorgen über das Schicksal der fünfzig autistischen Kinder anzuhören, die inzwischen längst in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Sie übergibt ihnen eine Liste mit allen Daten – für den Fall, dass sich einer ihrer Schützlinge angesteckt hat.

Tians selbst auferlegte Quarantäne neigt sich dem Ende zu. Ihre junge Praktikantin liegt nach wie vor im Hospital. Es geht ihr etwas besser. Trotz der „Fürsprache“ des Präsidenten hat das Hospital den Vorschuss von 8.000 Yuan einbehalten.

Noch ist unklar, wann Tian ihr Institut wiedereröffnen und ob es überhaupt weiterarbeiten kann. Da die Einnahmen ausbleiben, fehlt das Geld für die Miete und die Gehälter ihrer 20 Mitarbeiter. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht“, sagt Tian.