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Archiv-Artikel

Kurden beschließen Sondergericht

Kurdische Funktionäre des alten Regimes sollen verfolgt und vor Gericht gestellt werden. Die Gesuchten könnten sich jedoch aus den Kurdengebieten unter den Schutz der US-Militärverwaltung flüchten

ARBIL taz ■ Ein Gesetz zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenrechtsverletzungen durch das Saddam-Regime hat das kurdische Parlament Anfang dieser Woche beschlossen. Kurden, die in zentralen Positionen der Regierungsbehörden, Geheimdienste oder Milizen an den zahlreichen an den Kurden verübten Verbrechen des gestürzten irakischen Regimes beteiligt waren, sollen vor Gericht. Das Gesetz fordert die Einrichtung eines Sondergerichts, das nach dem Vorbild des von den Amerikanern für Bagdad geplanten Gerichtshofs für die Top 55 arbeiten soll. Dazu wollen die Parlamentarier eine Liste mit etwa 20 Personen erstellen, die zur Festnahme ausgeschrieben werden. „Dies ist ein historischer Tag für Kurdistan und den Irak“, sagt Saadi Ahmed Pire, Vorsitzender der Fraktion der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) am Ende der Debatte. „Wir setzen damit der Kultur der Straflosigkeit eine Ende.“

Nach dem Erlass des Autonomiegesetzes 1974 hatte das irakische Regime in den kurdischen Provinzen ein Marionettenregime samt Parlament eingesetzt, dessen Autorität sich darauf beschränkte, die Beschlüsse aus Bagdad umzusetzen. Darüber hinaus kreierte das Regime in den 80er-Jahren ein System aus so genannten Beratern, die ihre eigenen Milizen aufstellten. Meistens waren das Stammeschefs oder Großgrundbesitzer, die sich ihre Dienste von Bagdad großzügig entlohnen ließen und im Gegenzug die Landbevölkerung unter Kontrolle hielten. In ihrem Kampf um die Macht in Kurdistan in den 90er-Jahren griffen die Demokratische Partei (KDP) und die PUK dann bereitwillig auf die Dienste dieser Kollaborateure zurück, die oft mehrere hundert Kämpfer stellen können.

Eindringlich fordert ein islamistischer Abgeordneter die kurdischen Regierungsparteien auf, ihre Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kollaborateuren im Interesse der kurdischen Nation zu beenden. „Nur wenn wir unsere Differenzen überwinden, können wir mit diesem Kapitel der kurdischen Geschichte fertig werden“, sagt er.

Beinahe täglich werden seit dem Sturz des Saddam-Regimes in den kurdischen Gebieten Massengräber gefunden. Das bislang größte Gräberfeld mit 1.700 Gräbern wurde auf dem Anwesen von Ali Hassan al-Majid in Kirkuk entdeckt. Der Vetter von Saddam Hussein hatte seinerzeit als Chef des Nordbüros der Baath-Partei das Oberkommando über die Anfal-Offensiven.

In Kirkuk könnte das neue Gesetz aber auch einer ersten Prüfung unterzogen werden. Denn hier hält sich Sheikh Jafar Berzinji auf, der unter Saddams Regime als Gouverneur von Suleimaniya weithin für Angst und Schrecken sorgte. Da er nicht auf der Liste der Top 55 steht, werden ihn die Amerikaner nicht festnehmen, und die Kompetenzen der kurdischen Sicherheitskräfte sind unklar. Zwar hat der amerikanische Gouverneur von Kirkuk kurdische Polizisten aus den KDP- und PUK-Gebieten übernommen, doch gilt hier weiterhin das bisherige irakische Recht.

Die Autorität des kurdischen Parlaments endet an der ehemaligen Demarkationslinie zwischen dem irakischen Regime und den Kurdengebieten. So könnte die Situation entstehen, dass sich Saddams kurdische Schergen unter dem Schutz der US-Militärverwaltung der Strafverfolgung entziehen könnten. Für die Kurden wäre dies das größte Paradox. INGA ROGG