: Setz dich hin und schreib!
Was habe ich hier eigentlich zu suchen, fragt sich der iranische Exilant und Schriftsteller Abbas Maroufi immer noch. Einst Tischler, dann Betreuer gefolterter Künstler und Hotelportier, verkauft er heute Bücher – und setzt sich hin und schreibt
von ABBAS MAROUFI
Hast du schon mal erlebt, dass du auf einer Route so lange ziellos umherfährst, bis du nicht mehr weißt, in welcher Stadt du angekommen bist?
Ich glaube, es war im Jahr 98, als ich von Köln nach Düren fuhr und in einer fremden Stadt in Belgien landete. Es war Nacht, und ich versuchte verzweifelt zurückzukehren, landete jedoch stets nur in einer weiteren belgischen Stadt. Erst gegen Mitternacht fand ich die Autobahn und konnte umkehren. In jenen Tagen erkannte ich, wie sehr sich Emigranten von Exilanten unterscheiden: Zu meiner Umgebung und der neuen Stadt konnte ich keine emotionale Verbindung herstellen. Ich war fremd, und ständig, besonders beim Aufwachen, fuhr mir eine Frage durch den Sinn: Weshalb hat es mich hierhin verschlagen?
Kaum dass ich in Deutschland eintraf, begannen die Ratschläge: „Setz dich hin und schreib deinen Roman.“ Ich war jedoch stets ein Rebell, hatte stets nach meinen eigenen Vorstellungen gelebt, selbst Fehler gemacht, selbst ein Werk erschaffen, bin selbst hingefallen und wieder aufgestanden.
Und wo sollte ich überhaupt sitzen? Was schreiben? Weshalb wollen viele meiner Landsleute ihre Schriftsteller in ein Aquarium setzen und ihnen dabei zusehen, wie sie in dieser beschränkten Umgebung ihre Runden drehen? Weshalb begreift niemand, dass ich all das tue, damit ich mich hinsetzen und meinen Roman schreiben kann?
Abgesehen davon, wie soll man sein Leben voranbringen? Was geschieht mit der Miete und den übrigen Ausgaben? Dabei hatte ich Glück gehabt; in den ersten beiden Jahren waren drei meiner Bücher auf Deutsch erschienen. Mit dem Honorar für drei Bücher kann man jedoch keine fünfköpfige Familie ernähren. Ich musste mir etwas einfallen lassen.
Dies war ein Teil meiner Sorgen. Wo ich meinen Fuß auf den harten Boden des Exils setzte, ging es zunächst um meinen Stolz, da ich nie dazu bereit war, bei Bekannten oder beim Sozialamt vorstellig zu werden. Vom Jammern wird mir übel.
Ich mochte nicht in einem Kasten sitzen, einen Roman schreiben und die Arbeitsstunden zählen, um beispielsweise sagen zu können, ich hätte vierzig Seiten geschrieben. Ich mochte kein kümmerliches Einkommen, gelegentlich mit einem Koffer voller Bücher bei einer Veranstaltung erscheinen und die Zuhörer bitten, meine Bücher zu kaufen. Ich mochte nicht meine Worte schlucken, um über die Runden zu kommen, oder zum Wohlgefallen der anderen folgsam und biegsam werden, wie eine Pille, ein Gummischlauch, wie Wachs.
Meine Kindheit wurde vom Gebirge geprägt. Ich wurde von meinem Großvater erzogen, der sich mit einer Mandel begnügen konnte, aber keinen Zwang duldete. Vielleicht war auch er es, der mein Leben zerstörte, weshalb ich den reich gedeckten Tisch der Gewinnsucht verschmähte.
Ich war neunzehn, als ich meinem Vater beim Frühstück das Speisetuch vor die Füße warf und sein Haus verließ, um nur eine Woche später als Wehrpflichtiger in einer Kaserne in Kerman zu landen. Hatte ich mich im Hause meines Vaters nicht den Zwängen gebeugt, so habe ich doch in der Kaserne Prügel bezogen und Beschimpfungen erduldet. Nach Abschluss meiner Wehrdienstzeit kehrte ich nicht mehr ins Elternhaus zurück. Ich lernte, mit der Tischlerei Geld zu verdienen und mich wachzuhalten, um einige Stunden der Nacht mit Lesen und Schreiben zu verbringen. Von da an war es, dass ich allmählich zu mir fand, sodass mein persischer Verleger mir heute sagt, „Schade, dass Sie nicht an Ihrem ursprünglichen Ort sind. Mit den Honoraren Ihrer Bücher könnten Sie in Iran ein sehr gutes Leben führen.“
Wenn ich glücklich wäre
Als ich nach Deutschland kam, bot mir der schweizerische P.E.N. ein ruhiges, angenehmes Leben in einem Haus in Bern und ein lebenslanges Einkommen an, um „mich hinzusetzen und meinen Roman zu schreiben“. Ich blieb drei Tage in Bern und floh.
Ich weiß nicht, ob meine Lage heute schwieriger ist, als sie es damals war, als ich Günter Grass einen Brief schrieb. Ich weiß nur, dass es in jenen Tagen nur die Sorge um den Lebensunterhalt gab und den Schmerz der Fremde, sich der Dämmerung zuwenden müssen, um in einer finsteren Zukunft langsam unter- und einzugehen. Ich hatte diesen Brief nicht geschrieben, damit Günter Grass ihn mir beantwortet, aber Heinrich Böll antwortete mir, und ich konnte in seinem Haus ein Jahr lang als Betreuer arbeiten. Dort hatte ich es mit geflohenen und gefolterten Künstlern zu tun. Einer iranischen Malerin, deren Ehemann, ein Dichter, mit einem Seil erdrosselt worden war; mit einem kubanischen Dichter, dessen Vater ein hochrangiger General in Fidel Castros Armee war, vor dem er sich unter Todesgefahr nach Deutschland geflüchtet hatte. Mit einem bosnischen Schriftsteller, dessen Frau die Serben tausende Male vergewaltigt hatten, und den ich samt seinen kranken Kindern ständig ins Krankenhaus fahren musste. Mit einem guatemaltekischen Dichter, der diesen Ort mit viel Glück! erreicht hatte. Einmal fragte ich ihn, „Yacine, wenn du glücklich warst, was machst du dann hier?“ Er sah mich nur an und lächelte bitter. Er kannte die Frage, die jeder Vertriebene beständig für sich wiederholt. „Wenn ich glücklich gewesen wäre, was hätte ich dann in deinen Armen zu suchen?“
Was hatte ich eigentlich in Deutschland zu suchen?
Das eine Jahr im Heinrich-Böll-Haus ging zu Ende, ich war arbeitslos geworden und konnte mit meinem Arbeitslosengeld nicht einmal die Miete bezahlen. In Wandlitz, sechzig Kilometer von Ostberlin entfernt, fand ich eine Anstellung in einem großen Hotel an einem See. Über zwei Jahre war ich dort Nachtmanager, von 9 Uhr abends bis 7 Uhr früh. Tagsüber war ich müde und wie betäubt. Die deutsche Sprache lernte ich in diesem Hotel, doch habe ich während dieser Zeit jedoch kaum etwas geschrieben. Nur vier oder fünf Artikel und ein, zwei Erzählungen.
Die Unfähigkeit, zu schreiben, quälte mich. Ich war wie ausgehöhlt. Auf den dunklen Straßen dachte ich an meinen Roman, formte ihn, sobald ich jedoch meinen Arbeitsplatz erreichte, löste sich das Gewebe in Nebel auf. Nicht eine Zeile konnte ich schreiben. Ich musste mich gänzlich auf meine Pflichten konzentrieren: den Eingang, Empfang der Gelder der verschiedenen Abteilungen, Telefonate, Gäste, Kunden und anderes mehr. Beim Sonnenaufgang saß ein Kloß in meinem Hals, und ich machte mir Vorwürfe. Den ganzen Tag verschwendete ich mit Kochen, Schlafen, Ausruhen und damit, durchs Fenster den Wolken nachzusehen. Sobald es dunkelte, ein Blick auf die Uhr, ein Blick auf meine Umgebung, und ich trödelte, bis es 8 Uhr war, um aufbrechen zu können. Ich zerbröckelte, alterte und ergab mich schließlich. Es ist vorbei, dachte ich, ich muss den Schlusspfiff abwarten.
Gelegentlich musste ich auch wegen einer Lesung verreisen. Ich bereitete einen Text vor und machte mich auf den Weg. Unterwegs überlegte ich in einem fort, wie viel Zeit ich verschwendet hatte, aber … man darf nicht undankbar sein. Das Schlimme daran war, dass ich anstelle der Fehltage drei Wochen Nacht für Nacht ohne Unterbrechung arbeiten musste. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich wollte nicht, dass die fünfköpfige Familie zerbricht. Ich rannte, aber mein Monatsgehalt reichte nicht für den Lebensunterhalt. Statt vierzig, arbeitete ich wöchentlich sechzig Stunden. Mein Arbeitgeber war ein intellektueller Arzt, der überdies ein Hotel besaß. Er liebte die Hotellerie mehr als seinen Beruf. Er verlangte, dass ich die siebte Nacht ebenfalls arbeitete. Ich erklärte ihm, ich hätte eine Familie. Er sagte, ich hätte von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends Zeit, meine Aufgaben zu erledigen. Ich akzeptierte es nicht und wurde schwer krank. Bereits im ersten Monat meiner Krankmeldung wurde ich entlassen und war erneut arbeitslos. Eine fünfköpfige Familie, mein Gott! Unter diesen entsetzlichen Umständen gelang es mir mit Hilfe einiger Stipendien und Preise, einen Roman zu schreiben: „Geschlossene Gesellschaft“.
Zwei Straßen, zwei Orte
Zur Zeit habe ich eine Buchhandlung, in der Kantstraße in Berlin. Ich habe sie auf den Namen „Hedayat“ eintragen lassen. Dort finden sechs Kurse für Literatur und Malerei statt. Ich leite den Kurs für Erzählungen. Vor fünfzig Jahren wollte Hedayat in Berlin eine Buchhandlung eröffnen. Jemand versprach ihm zunächst seine Unterstützung, gewährte sie ihm jedoch nicht. Hedayat kehrte nach Paris zurück und beging wenig später Selbstmord.
Mittlerweile beschränke ich mich auf zwei Straßen und zwei Orte. Hedayats Haus, in dem ich täglich 10 Stunden arbeite, und meine Wohnung, in der ich nachts 4 Stunden schreibe. Anschließend lege ich mich schlafen, um morgens die Buchhandlung zu öffnen. Seit einigen Monaten habe ich keine Gelegenheit mehr, meinen Roman „Geschlossene Gesellschaft“ zu korrigieren. Er ist auf meinem Tisch liegen geblieben, genau auf Seite 193. Weder habe ich Zeit, ins Kino zu gehen noch in die Philharmonie, um Mozarts Requiem zu hören, weder bin ich in einem Café zu sehen, noch … noch. Ich habe keine Zeit, zum Zahnarzt oder spazieren zu gehen oder krank zu werden. Seit Monaten bin ich nicht mehr krank geworden. Eine Erkältung zählt nicht. Die ersten drei Tage fällt es schwer, werden überwunden, dann wird es normal, wird Arbeit.
Vor einigen Tagen sagte ein Freund, „Als Schriftsteller dürftest du nicht hinter der Kasse stehen, von den Leuten Geld in Empfang nehmen und dir alles gefallen lassen müssen. Du müsstest dich in einen Winkel verziehen und …“
Mir blieb nichts anderes übrig. Jetzt muss ich täglich 10 Stunden lang Bücher verkaufen. Ich wünschte mir, unter Leuten zu sein, ohne Bücher verkaufen zu müssen, mich hinsetzen und meinen Roman schreiben zu können. Jetzt tu ich all das, um …
Meine Frau sagte in den letzten Tagen unseres gemeinsamen Lebens: „Ist ein Künstler denn etwas Besonderes? Allerdings gibt es manche wie Van Gogh, die einen Bruder haben, der für sie aufkommt.“
Ich drehe mich im Kreis und bin verwirrt. Die fünfköpfige Familie ist zerbrochen. Es hat nicht geklappt, zum Teufel damit, welch hässliche Fratze hatte unsere Revolution! Jetzt sitze ich in meinem einsamen Zimmer und sage mir: „Du hattest Recht. Ein Künstler ist nichts Besonderes.“ Aber wie viele Jahrhunderte müssen noch vergehen, bis ein Land einen Hermann Hesse hervorbringt? Ich konnte in der Literatur meines Landes Djamalzadehs „Es war einmal“ mit meinem „Jahr der Aufruhr“ fortsetzen – und was noch?
Vielleicht ist auch meine Epoche zu Ende, so dass ich mir nur noch die Gesichter einprägen und von einem Winkel zum anderen verschieben kann. Das Gesicht des Exils erscheint mir mittlerweile wie ein Phönix, der verbrennen muss, damit aus seiner Asche möglicherweise ein neuer Phönix entsteht und tausend Jahre lebt. Aber ist all das nicht nur eine Sage?
Übersetzung: Susanne Baghestani