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Holocaust-Mathe mit Günter GrassLasst uns alle Opfer sein

Günter Grass hat im Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz 6 Millionen tote deutsche Kriegsgefangene aus dem Hut gezaubert. 6 Millionen?

Günter Grass hat sich verrechnet, eine symbolische Zahl ist dabei herausgekommen. Sechs Millionen deutsche Kriegsgefangene seien in sowjetischen Lagern gestorben, sagte Grass dem israelischen Journalisten und Historiker Tom Segev in einem Interview für die israelische Tageszeitung Haaretz, das am vergangenen Wochenende erschienen ist.

Segev hatte Grass anlässlich der hebräischen Übersetzung seines Romans "Beim Häuten der Zwiebel" befragt. Sie ist erst vor kurzem in Israel publiziert worden. Das Buch hatte bei seinem Erscheinen 2006 weltweit für Aufregung gesorgt, weil Grass darin erstmals über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS als junger Mann geschrieben hatte.

Segev wirft Grass im Haaretz-Gespräch vor, sich und seine Kameraden als Opfer darzustellen, wie schon die Passagiere des Naziausflugsdampfers "Wilhelm Gustloff" aus Grass' Novelle "Im Krebsgang" von 2002. Dort beschreibt Grass unter anderem die Versenkung des Schiffs, das deutsche Flüchtlinge gen Westen beförderte, durch ein sowjetisches U-Boot. Das sei eine bösartige Interpretation, entgegnet Grass im Interview. Und erklärt daraufhin, "der Wahnsinn und die Verbrechen” hätten sich “nicht nur im Holocaust ausgedrückt", und auch nicht mit Kriegsende aufgehört.

"Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu mindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen erlegten den Deutschen schlimme Katastrophen auf, und so wurden sie zu Opfern," sagt Grass.

Zurück in den 50ern

Der Historiker Peter Jahn, von 1995 bis 2006 Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, hat Grass’ Erklärung in der Süddeutschen Zeitung kommentiert. Den Mord an sechs Millionen Juden "mit einem Phantasiebild von sechs Millionen liquidierten deutschen Kriegsgefangenen zu relativieren", sei erklärungsbedürftig, meint Jahn. Tatsächlich seien mehr als drei Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Gefangenschaft geraten. Sie seien zumeist erst zwischen 1947 und 1949 entlassen worden, "da die sowjetische Regierung ihre Arbeitskraft als Reparationsleistung für die immensen Kriegszerstörungen ansah".

Von ihnen hätten geschätzte 700.000 bis 1,1 Millionen nicht überlebt. Sie seien vor allem Opfer der Mangelernährung geworden, unter der aber auch große Teile der sowjetischen Bevölkerung zu leiden gehabt hätten. Zuvor seien bereits Millionen gefangene Sowjetsoldaten und Sowjetbürger systematisch ermordet worden. Der Vernichtungskrieg im Osten und seine Opfer kämen in Grass’ Rechnung erst gar nicht vor, kritisiert Jahn.

Grass sei mit seiner Kalkulation zum deutschen Bild der fünfziger Jahre zurückgekehrt, schließt Jahn: "Damals waren 'unsere Gefangenen' ja ausschließlich Opfer. Die deutsche Erinnerung setzte 1943 bei den Leiden der sechsten Armee in Stalingrad ein, setzte sich im Leid der deutschen Bevölkerung 1945 fort und mündete im Elend der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion."

 

Vorsichtig mit der Rebellion

Quod erat demonstrandum, eben das war Segevs Prämisse und Vorwurf an Grass gewesen: Die Helden der Bücher "Beim Häuten der Zwiebel" und "Im Krebsgang" forderten als Opfer das Mitleid der Leser ein.

Segev geht es auch um Grass, vor allem aber um deutsche Geschichtspolitik, zuhause und in Israel. In einem Beitrag zur hebräischen Übersetzung von Hans Falladas spätem Weltbestseller "Jeder stirbt für sich allein" ("Alone in Berlin"), der 2009 von der New York Times gefeiert wurde, wies Segev vor gut einem Jahr darauf hin, dass diese Publikation, wie auch die hebräische Übersetzung von Grass’ Novelle "Im Krebsgang", vom Goethe Institut subventioniert worden war. Die hebräische Ausgabe des Buchs verdanke sich dem Versuch Deutschlands, sein historisches Image zu beeinflussen, meinte Segev.

"Jeder stirbt für sich allein" ist die nicht ganz akkurat wiedergegebene Geschichte des Ehepaars Elise und Otto Hampel, die während des Kriegs Anti-Nazi-Postkarten in Berlin verteilten, gefasst und hingerichtet wurden. Hans Fallada schrieb das Buch 1947 auf Bitten des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Becher.

"Es ist natürlich ironisch", schrieb Segev, "dass das deutsche Außenministerium eine Publikation finanziell unterstützt, die als kommunistisches Propagandaprojekt entstanden ist." In der DDR habe man die Legende gepflegt, beinahe das ganze Land bestehe aus Widerstandskämpfern – im Gegensatz zum faschistischen Westdeutschland. Bücher, die Enthüllungen über Rebellionen enthalten, seien mit Vorsicht zu genießen, meint Segev: "Nur wenige Deutsche widersetzten sich den Nazis, und die Mehrheit von ihnen tat es nicht, weil die Nazis die Juden verfolgten, sondern weil sie die deutsche Niederlage befürchteten."

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