: Nur die Erfahrung zählt
Das Museum als Readymade in XXL: Vor den Toren New Yorks, in Beacon, wurde eine riesige Halle für die Kunst eröffnet – neuer Hauptsitz der Dia Art Foundation, die sich seit den Siebzigern als mäzenatische Nachfolgerin der Medici versteht
von SEBASTIAN MOLL
Beacon, New York. Wer dem opulenten Art-Deco-Prunk des Grand Central Terminal in Manhattan den Rücken kehrt und die Treppen hinabsteigt zu den finstren unterirdischen Bahnsteigen der Metro-North-Line, der will raus. Der sucht die Weite des lieblichen Hudson-Tals, das schon durch das Zugfenster den von den Dauerreizen der Stadt ermüdeten Blick erfrischt und beruhigt.
Wenn man in Beacon, etwa eine Stunde nördlich von Manhattan aussteigt, platzt allerdings die Illusion, man habe gegenüber der Urbanität Raum gewonnen. Nur drei Fußminuten vom Bahnhof, die Straße am steilen Flussufer hinauf, liegt eine Fabrikhalle aus Backstein von den Dimensionen der Hamburger Deichtorhallen. Bis vor zwölf Jahren wurden hier in Beacon die Versandkartons der National Biscuit Company Nabisco bedruckt. Seit Sonntag stehen auf den rund 23.000 Quadratmetern des Baus von Louis Wirshing aus dem Jahr 1929 jedoch statt Druckerpressen Schmuckstücke aus der Sammlung der Dia Art Foundation, die seit ihrer Gründung 1974 in renaissancehaftem Ausmaß die Minimal- und Konzeptarbeiten von Künstlern wie Joseph Beuys, Andy Warhol, Donald Judd, Gerhard Richter und Sol LeWitt gefördert und ermöglicht hat.
Die Fabrikhalle wirkt im Wortsinn verloren hier, vor der romantischen Kulisse der Rhein-ähnlichen Flusslandschaft rund um Beacon. Man hat das Gefühl eines Fundes, der Entdeckung eines Gegenstandes, der hier vor langer Zeit liegen geblieben ist. Eben dieses Gefühl muss Michael Govan, der Dia-Direktor, auch gehabt haben, als er 1991 nach Beacon kam. Die Nabisco-Druckerei war genau das, wonach er so lange vergeblich gesucht hatte. Und nun lag sie einfach so da: eine angemessene Heimat für die Kunst in seinem Besitz. Oder besser – was eher der Dia-Philosophie entspricht –, es lag ein Raum da, welcher der Gestaltung durch die Dia-Künstler würdig ist.
Allein die Zufälligkeit des Fundes, das Überraschende daran, machte die stillgelegte Druckerei zum idealen Ort für die Dia-Kunst. Eines der ersten Projekte, das Dia gefördert hatte, war 1979 der „Broken Kilometer“ von Walter de Maria, der in Beacon den 100 Meter langen, zweigeteilten Eingangsbereich mit übergroßen geometrischen Formen aus poliertem Edelstahl ausgelegt hat. Damals hatte de Maria die Lobby eines Gebäudes am West Broadway in Manhattan mit 500 jeweils exakt zwei Meter langen Neonröhren gestaltet, die er in fünf lange parallele Reihen legte.
Die Installation ist bis heute in Manhattan zu sehen und gilt als Klassiker der minimalistischen Skulptur. Zwei Elemente machten dieses Werk programmatisch: zum einen dass es aus einem vorgefertigten industriellen Gegenstand besteht – wie auch die Nabisco-Druckerei in Beacon einer ist. Zum anderen dass dieser Gegenstand nicht verändert, sondern lediglich zu einer Serie aneinander gereiht wurde.
Die Wiederentdeckung des Readymade in den 60er-Jahren war zuvorderst ein Protest gegen die Rhetorik des abstrakten Expressionismus. Es war eine Absage an die Ideologie, dass Kunst eine präexistente innere Welt des Künstlers abbilden soll oder dies auch nur kann. An die Ideologie, dass das Material eine innere Form besitzt, die der Künstler kraft seiner Intuition freilegt und somit den Stoff zum Bedeutungsträger macht. Das Ding des Minimalismus war nur das Ding und sonst gar nichts; seine Aneinanderreihung die polemische Weigerung, ihm Form und dadurch Bedeutung zu übertragen. Das einzige Organisationsprinzip war das nackte räumliche und zeitliche Nacheinander.
Trotzdem war die minimalistische Polemik nicht die Proklamation des Endes der Bedeutung in der Kunst. Allein der Ort, an dem Bedeutung entsteht, wurde ausgelagert. Die Bedeutung lag fortan nicht mehr in der Form, sondern entstand zwischen Material und Betrachter: Im Fall der frühen Minimalkunst war diese externalisierte Bedeutung – dialektisch – bloß die, dass Bedeutung etwas Externes ist.
Natürlich steht eine solche künstlerische Sensibilität auch mit konventionellen Modellen des Museums auf dem Kriegsfuß. „Auf ewig Grundkurs in Literaturwissenschaft und keine Literatur nie nicht mehr“, zitiert Dia-Kuratorin Lynne Cooke die Kritik des Dia-Künstlers Donald Judd an der Institution des Museums. Ausstellungen, so Judd 1982, seien nur noch Reader’s Digests, die Erfahrung der Kunst im Museum ähnlich die der Literatur im Proseminar unmöglich geworden. Dabei war die Erfahrung der Kunst ja genau das, was im Sinne der Dia-Künstler die Kunst überhaupt erst entstehen lässt.
So schien der Readymade-Bau in Beacon eine Ideallösung für die Dia-Kunst, die bislang ihren Hauptsitz in einer umgebauten Lagerhalle im Manhattaner Stadtbezirk Chelsea an der 22nd Street hatte. Im Kontrast etwa zu eitlen Bauten wie dem Guggenheim in Bilbao verweigert die Nabisco-Halle jeglichen eigenen Sinnanspruch und verweist stattdessen auf die Kunst. Das Dia:Beacon ist zuvorderst Raum und Licht.
Die ehemalige Druckerei besteht aus einem einzigen Raum, dessen komplette Decke aus den für die Industriearchitektur der 20er-Jahre charakteristischen, nach Norden befensterten Zacken besteht. Die Backsteinwände und der unbearbeitete Holzboden entsprechen der ursprünglichen Ausstattung des Baus. Die Unterteilungen innerhalb der Ausstellungsfläche entspringen indes der jeweiligen Notwendigkeit der Werke. Überhaupt von ausgestellten Werken zu sprechen, verbietet sich in den meisten Fällen. Am ehesten trifft dies vielleicht noch auf den 102 Tableaus umfassenden „Shadows“-Zyklus von Andy Warhol zu, einer für Warhol verblüffend nüchternen, in ihrem raumgreifenden, repetitiven Charakter fast minimalistischen Licht- und Farbvariation, die um einen rund 1.000 Quadratmeter großen Raum gehängt ist.
In weit mehr Fällen jedoch haben die Künstler den vorhandenen Raum gestaltet – mit dem Nabisco-Readymade gearbeitet. Da ist etwa die Arbeit „Union of the Torus and the Sphere“ von Richard Serra, einem schiffsrumpffömigen, vier Meter hohen Keil aus massiven Stahlplatten, der eine schmale Passage so ausfüllt, dass man sich daran vorbeidrücken muss. Die zwei zusammengefügten Platten, jeweils rund 20 Tonnen schwer, sind in sich gewunden und verleihen so dem Objekt eine bedrohliche statische Instabilität. Die Eigenschaften des Materials werden sehr unmittelbar körperlich erfahrbar, während der Betrachter sich, von der Form gelenkt, durch das Werk schiebt.
Gerhard Richter hat in Fortsetzung von früheren Arbeiten mit Spiegeln die Wände eines rechteckigen Raumes mit mattgrauen Scheiben versehen. Jede der Scheiben besitzt eine leichte Neigung, die sich erst dann mitteilt, wenn man sich der Erfahrung dieses Raumes wirklich ausliefert. Die Weitläufigkeit und Helligkeit der Nabisco-Halle, die Klarheit ihrer Linien wird sabotiert und für einen Moment gestört.
Fred Sandback schließlich hat schlicht mit verschiedenfarbigen Schnüren geometrische Formen in den leeren Raum gespannt. Das expressionistische Credo, dass Bedeutung aus dem Zusammentreffen von Idee und Material entsteht, wird hier restlos unterwandert: Das vermeintlich bedeutungstragende Innere des Werks ist leer.
So ist das Dia:Beacon eine radikale Neuformulierung dessen, was ein Raum für Kunst sein soll und kann. Es ist eine barsche Absage an das Museum als prunkvolle Hülle Gewinn bringender Wanderausstellungen, am eindeutigsten verkörpert durch die Weltkunstkette Guggenheim. Die Ausstellung in Beacon ist permanent, die frühere Druckerei eine Landschaft, die es zu durchwandern und zu entdecken gilt wie einen großen modernen Roman. Es gibt keine Chronologie und keine Hierarchie der Räume, kein Thema und keine Lektion über Kunstgeschichte, die der Betrachter zu lernen hat, wie etwa in der Matisse-Picasso-Ausstellung am Museum of Modern Art oder der Velázquez-Manet-Ausstellung am Metropolitan Museum, die gleichzeitig in New York gezeigt werden.
Und doch ist einem Mann das Beacon-Konzept nicht rigoros genug: dem Dia-Gründer Heiner Friedrich. Der Berliner, der seine Karriere als Galerist in München begann und seit 1971 in New York lebt, hält Beacon für einen faulen Kompromiss. Nicht 24 Künstler hätten in Beacon gezeigt werden dürfen, meckerte er gegenüber einem Reporter des New Yorker, sondern höchstens fünf oder sechs. Und diejenigen, die wie Sol LeWitt oder Serra für das Beacon-Projekt eigens kommissioniert wurden, hätten behandelt werden müssen wie Giotto für die Cappella Scrovegni in Padua.
Nun hat Friedrichs Auffassung von Mäzenatentum, die sich an niemand Geringerem als den Medici orientiert, Dia sowohl zu dem gemacht, was es ist, als auch die Organisation an den Rand des Ruins getrieben. Zusammen mit seiner Frau Philippa de Menil, einer Erbin von Ölmilliarden aus Texas, gründete und formte Friedrich zwischen 1974 und 1985 den Dia-Kreis. Er förderte und betreute Joseph Beuys, Blinky Palermo, Donald Judd, Dan Flavin, Cy Twombly, Andy Warhol, John Chamberlain und Walter de Maria. Quasi im Alleingang ermöglichte er einen Paradigmenwechsel in der modernen Kunst, finanzierte beispielsweise Judd’s Projekte mit bis zu 17.000 Dollar pro Monat. Bis 1984 hatten Friedrich und de Menil 30 Millionen Dollar ausgegeben. Dann versiegte die Finanzquelle wegen der Ölkrise, Friedrich musste als Dia-Direktor zurücktreten.
Es folgten weniger kompromisslose, pragmatische Direktoren bei Dia, doch der Geist Friedrichs und der Kerngruppe von Künstlern beherrscht bis heute die Organisation. Unter Friedrich hätte es allerdings vermutlich nie ein Museum gegeben. Seinem Ideal der Kunstpräsentation näher kommt seine Anlage auf einem ehemaligen Armeegelände in Marfa, Texas, nahe der mexikanischen Grenze. Dort hat Donald Judd zwei riesige Munitionsdepots mit überdimensionalen Aluminiumschachteln gefüllt. Auf einem Feld in einiger Entfernung stehen noch einmal wesentlich größere Kuben aus Beton.
Die körperliche Erfahrung, sich in dieser minimalistischen Kunstlandschaft mitten in der texanischen Wüste zu bewegen, so sagt man, sei überwältigend. Nur so darf, geht es nach Friedrich, Kunst Erfahrung schaffen. Alles andere ist fauler Kompromiss, verwässert und schlecht. Für eine erste überraschende Begegnung mit der sinnlichen Welt der strengen Raumkunst tut es allerdings auch ein Ausflug in das Hudson-Tal. Beileibe.