: Schamlose Frauen
Mit rotem Kopf skizziert: Evgenij Kozlovs „Leningrader Album“, das seine höchst erotischen Schülerzeichnungen aus den Jahren 1968 bis 1973 zeigt
VON BARBARA KERNECK
Die UdSSR galt als notorisch unerotisches Territorium. Davon zeugt die Anekdote von der Fernsehbrücke zwischen Moskau und New York, als eine Sowjetbürgerin auf die Frage der amerikanischen Seite: „Wie steht es denn so mit dem Sex bei euch?“, antwortete: „So etwas gibt es bei uns nicht!“
Dass die gute Frau dies nur gesagt haben kann, um dem Westen Sand in die Augen zu streuen, dafür haben wir jetzt den Beweis: im Konkursbuch Verlag ist das „Leningrader Album“ erschienen, mit 108 erotischen Tuschzeichnungen des heute in Berlin lebenden russischen Künstlers Evgenij Kozlov. Geschaffen hat er sie als Schüler in seiner Geburtsstadt an der Newa, in den Jahren 1968 bis 1973, im Alter von 13 bis 18 Jahren. Den Federhalter muss er zwischendurch immer mal wieder in ein Fässchen mit Hormonen getaucht haben, vor allem mit Adrenalin.
Denn Evgenij durfte sich nicht erwischen lassen, bei dem, was er da festhielt und was er selbst so formuliert: „Ein Junge stellte sich vor, wie wohl die in geistiger, intellektueller und visueller Hinsicht besten Mädchen von ihm träumen, obwohl nicht nur das.“ Zu Beginn wohnte seine Familie noch in einer so genannten Kommunalka, einer jener unfreiwilligen Wohngemeinschaften, in denen sich zu viele Parteien Bad und Küche teilten. Der werdende Künstler nutzte zum Zeichnen Momente der Abwesenheit seiner Eltern im einzigen Zimmer der Familie. Die Herausgeberin des Albums, Hannelore Fobo, schreibt dazu in ihrem informativen Nachwort: „Die turbulente Enge jener überaus verbreiteten Zwangsgemeinschaften konnte ihre Vorteile haben. Sie vermittelte den Kindern eine Fülle von Eindrücken, die sie in einer normalen westeuropäischen Kleinfamilie nicht empfangen hätten.“
Ein verträumter Junge profitiert hier vor allem davon, dass ihn die Mädchen und Frauen als Mann noch nicht für voll nehmen. Da wäscht sich ein junges Mädchen über dem Küchenabfluss Gesicht und Arme, und die verwirrende, reife Nachbarin präsentiert sich gar im Korsett am Telefon. Evgenij träumt davon, was diese Frauen sonst noch so treiben mögen. „Tante Marina auf dem Tisch ohne Schlittschuhe“ heißt eine Zeichnung, auf der die Tante mit einer Art Selbstuntersuchung befasst ist. Und zwei Seiten weiter hängt eine Dame entkleidet an den Ringen unter der Decke ihres Zimmers, mit einem Paar extra klobiger Schlittschuhe an den Füßen.
Sowjetnostalgische Accessoires häufen sich, nachdem Evgenijs Eltern eine eigene Wohnung im Stadtteil „Fröhliche Siedlung“ bezogen haben. Seine Besucherinnen dort tragen bei den gemeinsamen erotischen Doktorspielen oft nichts außer ihrem Pionierhalstuch. Unbesorgt entkleiden können sie sich dank eines kleinen Gerätes in Form einer Satellitenschüssel. Diese elektrischen Heizöfchen waren sehr fragil, fielen leicht um und setzten mit ihren Strahlern die Teppiche in Brand. Der Refrain: „Yeah, yeah, yeah“ dringt aus dem zeittypischen Musikkoffer und lässt die Zeichnungen vibrieren. Nostalgie erweckt auch der Faksimile-Charakter des „Leningrader Albums“. Das von der Zeit gewellte Papier, die krümelige Tusche wirken wie ein Echo auf Leningrads Wasserflächen und bröckelnde Fassaden.
In der „Fröhlichen Siedlung“ werden Kozlovs Figuren immer plastischer. Ihre frisch notierten Dialoge wachsen sich zu kleinen Sketchen aus. Auch die Personengruppen auf den Zeichnungen werden komplexer, unter sie mischt sich nun eine männliche Gestalt – Evgenijs Alter Ego –, und er bekommt Besuch, von Katja, Ira, Sweta, Rosa. Es sind viele, aber sie bleiben als Individuen erkennbar. Sich selbst stellt er dar, als Mann, den die Frauen lieben, auch deshalb lieben, weil er mit seiner Feder ihrer Schönheit huldigt. Auf einer der Zeichnungen schaut sich ein Mädchen ein Kunstalbum an und sagt über die „Maja“: „Also der Goya ist Klasse, man sieht gleich, dass er ihr gefallen hat!“
Der Junge wiederum ist sich seiner Rolle als Mann noch unsicher und sucht bei den Frauen nach Ermutigung. In seinen Zeichnungen schaut er zu ihnen auf, wie einst Toulouse-Lautrec. Und an Lautrecs Geschöpfe erinnern sie auch in ihrer selbstsicheren Stattlichkeit. Sie sind die treibenden Kräfte bei diesem fortgesetzten Vorspiel zu seinem Erwachsenenleben. So wie die beiden tief gebräunten Blondinen, die ihn auf einer der Zeichnungen fragen: „Hast du vielleicht gedacht, wir kommen dich besuchen, um uns vor dir zu schämen oder was?“
Evgenij Kozlov „Leningrader Album“. Hg. Hannelore Fobo (engl., russ., dtsch.), Konkursbuch Verlag, Tübingen 2004, 19,90 €