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Archiv-Artikel

Das Klingelzeichen als Lernerfolg

Kleine Soziologie der Erziehung (6 und Schluss): Zahlreiche Pädagogiken haben durchaus interessante Ideen entwickelt, wie eine intelligente Erziehung aussehen kann. Nun kommt es darauf an, diese Ideen von ihren eigenen Ideologien zu befreien

VON DIRK BAECKER

Im Anschluss an die Bestimmung von Funktion, Medium und Kodierung der Erziehung kann man sich überlegen, wie die Interaktionen beschaffen sein können, in denen in diesem Sinne der Personwerdung im Medium der Intelligenz erzogen werden kann, und wie die Organisationen aussehen können, in denen solche Interaktionen stattfinden können. Erziehung, so wiederum Luhmann in seinem Buch über das Erziehungssystem der Gesellschaft, findet fast immer in der Form von Schulklassen statt. Diese Form garantiert, dass auf der einen Seite die Vorgaben von Curricula erfüllt und innerhalb des Erziehungssystems zum Beispiel in der Form von Versetzungen und Abschlüssen kommuniziert werden können. Und sie garantiert, dass in der Klasse hinreichend viel Unbestimmtes passieren kann, was als Gelegenheitsstruktur der Erziehung aufgegriffen werden kann, um das, was gelernt werden soll, dem jeweiligen Stand der Dinge in Sachen Personwerdung anpassen zu können.

Auf dieser Ebene der Interaktion in Schulklassen sind zahlreiche Experimente möglich, die in erster Linie um das Verschwinden und Wiederauftauchen des Lehrers und um die Konstitution unterschiedlicher Lerngruppen unter den Schülern (Plenum/Arbeitsgruppe) kreisen. Diese Experimente kann man dazu nutzen, Erfahrungen damit zu sammeln, welche Konstellationen von Wissen und Nichtwissen in welcher Form am ehesten zu vermitteln sind. Diese Vermittlung hat es immer mit mindestens zwei Fällen zu tun, mit dem Kennenlernen des Sachverhalts und mit dem Sich-selbst-Kennenlernen des Lernenden – wenn man einmal das Kennenlernen des Lehrers außen vor hält, das in der Regel erst dann interessant wird, wenn es nichts anderes mehr zu lernen gibt. Hier wird es darum gehen, die Fremderfahrung des Lernstoffs und die Selbsterfahrung des Lernenden auseinander zu halten, aufeinander zu beziehen und je nach Bedarf unterschiedlich zu fokussieren.

Die Frage der Organisation von Kindergärten, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Universitäten ist von der Frage der Interaktion in Schulklassen nicht unabhängig zu behandeln. Immerhin kommt es hier darauf an, curriculare Vorgaben und Gelegenheitsstrukturen des Lernens so aufeinander zu beziehen, dass die Last der Erziehung weniger auf der einzelnen Schulklasse als vielmehr auf dem Wechsel von Schulklasse zu Schulklasse liegt. Wie sollte man die Konzentration auf das Nichtwissen (vom Wissen zu schweigen) aushalten, also Lehrer und Schüler zu Erziehung motivieren können, wenn nicht jede Schulstunde nach ihrem Anfang auch ein Ende hätte? Manche Schulen und alle Universitäten können auf das ersehnte Klingelzeichen erst verzichten, wenn und weil alle Beteiligten gelernt haben, sich auf diese Episodenstruktur der Erziehung zu verlassen. Der Beitrag dieses Lernerfolgs zu dem, „was wir in der Schule lernen“ (Robert Dreeben), ist überhaupt nicht zu unterschätzen. Möglicherweise ist es erst diese Abstraktionsleistung, die in der Unterscheidung von Schulstunde und Lernstoff liegt, die dazu befähigt, Wissen als Stoff zu präparieren und von einem jeweils spezifischen Nichtwissen abzugrenzen.

Hinzu kommt, dass erst diese Organisation, in die die Schulklasse eingebettet ist, dann auch hinreichend garantiert, dass jedes erlernte Wissen inklusive des zugehörigen Nichtwissens auch wieder vergessen werden kann, weil man in der Regel nicht befürchten muss, damit immer wieder konfrontiert zu werden. Die Organisation kann die Vorstellung der Akkumulation des Wissens pflegen, während Lehrer und Schüler in der Klasse den Kopf frei haben, um sich mit jeweils neuem Wissen und Nichtwissen zu beschäftigen.

Gleichzeitig jedoch kann man sich überlegen, wie eine Organisation aussehen soll, die ihrerseits gleichsam intelligent genug ist, um zur Erziehung zu motivieren, indem sie Strukturen der Erprobung von Wissen innerhalb und außerhalb der Schule (das heißt in der „Theorie“ wie in der „Praxis“) ebenso bereitstellt wie Strukturen des Aushaltens von Nichtwissen (und auch das: in der „Theorie“ wie in der „Praxis“). Die Organisation des Wechsels zwischen den Schulklassen und Ausbildungsgängen und die Sicherstellung von unterstützenden Leistungen (Stipendien, Bibliothek, Computer) sind ebenso wichtig wie die Einbindung in die verschiedenen Arbeitsfelder der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Kultur) und die Bereitstellung von Räumen für Entlastungsaktivitäten (Sport, Essen, Feiern, Schlafen). Hier öffnet sich ein reichhaltiges Feld für die Konzeption und Architektur von Kindergärten, Schulen und Universitäten, das bereits vielfach und vielfältig genutzt wird.

Zahlreiche Pädagogiken, darunter nicht zuletzt die Waldorfpädagogik, haben Ideen entwickelt, wie eine intelligente Erziehung aussehen kann. Es kommt jetzt darauf an, diese Ideen von ihren eigenen Ideologien zu befreien. Diese Ideologien bestehen typischerweise darin, entweder den Ausgangspunkt der Erziehung, den Menschen, oder ihren Endpunkt, die Persönlichkeit, absolut zu setzen, um sich auf diese Art und Weise jede Einmischung der Gesellschaft in die Belange der Erziehung verbitten zu können. Aber das sind Kinderkrankheiten in der Geschichte der Ausdifferenzierung des Systems, vergleichbar dem Kapitalismus in der Wirtschaft, dem Liberalismus in der Politik oder dem Ästhetizismus in der Kunst.

Die soziologische Perspektive kann dazu dienen, diese Ideologien auszukühlen. Sie würde den Organisationen der Erziehung anraten, Mensch und Person auf sich beruhen zu lassen und sich stattdessen um die Spezifikation von Konstellationen des Wissens und Nichtwissens zu kümmern. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Funktionssystem der Erziehung seine gesellschaftliche Funktion so erfüllen, dass ihm die Zusicherung jeden Autonomiespielraums gewiss ist.

Wir brauchen auf diese Details nicht weiter einzugehen. Für unsere Skizze der Soziologie der Erziehung ist es nur wichtig, gezeigt zu haben, dass die gegenwärtige Krise des Erziehungssystems und die unterschiedlichen Experimente mit Möglichkeiten, die Krise zu beheben, zum selben System gehören. Unser Versuch, durch die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion und des Kommunikationsmediums des Systems anzudeuten, worin eine mögliche Limitation des Systems besteht, muss weiter entfaltet und diskutiert werden. Er mag jedoch dazu beitragen, der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems in der Gesellschaft weiteren Schwung zu geben, der Politik und der Wirtschaft ihre Befürchtungen angesichts weiterer Autonomiegewinne des Systems zu nehmen und mit alldem jenen Tag in Reichweite zu rücken, an dem endlich die Kritik laut wird, das Erziehungssystem betreibe Erziehung um der Erziehung willen. Dann erst darf es wirklich heißen, non scholae sed vitae discimus. Denn dann hat das Leben in der Schule seine eigene und nichttriviale Form gefunden.