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Archiv-Artikel

„Ich bin sehr gespannt, was noch passiert“

Studieren im Aufstand: Der Bremer Jurastudent Martin von Bostel macht ein Austauschsemester in Thessaloniki in Griechenland. Seine Universität ist der Rückzugsraum der Protestler, die Fakultät komplett zerstört. Bleiben will der Erasmus-Student trotzdem

MARTIN VON BOSTEL, 21, studiert normalerweise in Bremen Rechtswissenschaften. Dieses Semester verbringt er als Erasmus-Austauschstudent an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, der mit 95.000 Studierenden größten Hochschule Griechenlands

taz: Herr von Bostel, Sie sind für Ihr Jurastudium ein halbes Jahr als Erasmus-Student in Thessaloniki. Was haben Sie in den letzten Tagen gelernt?

Martin von Bostel: Viel Jura jedenfalls nicht, der Unibetrieb ist natürlich völlig zum Erliegen gekommen. Seit Sonntag ist es täglich das gleiche Schauspiel. Vormittags und abends versammeln sich die Leute – mal nur 300, mal mehrere tausend – auf dem Kamara-Platz bei der Universität und ziehen von dort in die Innenstadt.

Wer sind „die Leute“?

Das ist sehr unterschiedlich. Treffpunkte werden von den organisierten anarchistischen Gruppen festgelegt. Die anarchistische Szene selbst ist aber sehr klein. Außer ihnen sind Studierende dabei, Jugendliche und SchülerInnen.

Worum geht es den Gruppen?

Es geht natürlich um die tödlichen Schüsse auf Alexis Grigoropoulos und um die seit langem andauernden Proteste im Bildungsbereich und von Gewerkschaften. Aber politische Flugblätter gab es nur wenige in den letzten Tagen, die kommunistischen Gruppen haben ein oder zwei verfasst.

Hatten Sie auch einen Erasmus-Block?

Nein, aber natürlich gehen viele Austauschstudierende mit, wenn auch wohl eher aus Sensationsinteresse.

Und, war es sensationell?

Es gibt verschiedene Arten von Aktivisten, neben friedlichen Demonstranten, die nur mitlaufen auch viele unorganisierte und dann eben die motorradbehelmten Steinewerfer, die ganz gezielt Filialen von McDonalds, H&M oder Zara angreifen. Mittlerweile ist jedenfalls die halbe Innenstadt kaputt, vor allem auch Polizeistationen. Es gibt keine offene Bank in diesen Tagen.

Sind die Demonstrationen strukturiert?

Nein, auf der Straße herrscht das pure Chaos, es gibt keine Demosanitäter, keine Rechtshilfegruppe, man ist hier völlig sich selbst und seiner Bezugsgruppe überlassen.

Wie reagiert die Bevölkerung?

Es gibt viel Beifall und selbst von bürgerlicher Seite durchaus Unterstützung. Die Wut und der Ärger auf den Staat wird von Seiten der Bevölkerung geteilt.

Und wie verhält sich die Polizei?

Ich habe kaum Festnahmen mitbekommen, die Polizei hat sich sehr zurückgehalten und Distanz zu den Demonstrationen gewahrt – ganz im Gegensatz zu Athen, wo es ja schwere Auseinandersetzungen gab. Hier sind die Polizeieinheiten in der Nähe des Campus stationiert, weil sich die Aktivisten nach den Demos immer dorthin zurück ziehen. Da gibt es dann immer wieder Scharmützel mit der Polizei.

Wie muss man sich das vorstellen?

Die Demonstranten werfen Molotow-Cocktails und Steine auf die Polizisten auf der anderen Straßenseite, und die werfen Tränengasgranaten zurück.

Die Polizei betritt die Uni nicht?

Nein, sie hält sich an Gesetz, dass sie Universitäten – außer nach Morden – nicht betreten dürfen. Diese Regelung wurde nach dem Ende der Militärdiktatur 1973 erkämpft und wird hier als Errungenschaft der Demokratie betrachtet. Wegen der Lage gerade steht die Regel allerdings zur Debatte, weil sie natürlich dazu führt, dass die Uni als Rückzugsort genutzt wird, um Strafverfolgung zu entgehen.

Trotzdem trauen sich viele nicht auf den Campus?

Ja, dort ist es gerade eher unangenehm.

Warum?

Einige Aktivisten sind über den Campus gestreift und haben Brände gelegt, die sich aber nicht ausgeweitet haben. Zum Glück, die Feuerwehr darf nämlich auch nicht auf das Gelände. Alle Gebäude sind besetzt, den Professoren wird der Eintritt verwehrt. Meine Fakultät ist komplett verwüstet, alle Scheiben sind kaputt, in allen Büros liegen Computer und Unterlagen entweder auf dem Boden herum oder wurden geklaut.

Haben Sie irgendwelche Informationen bekommen, wie es weitergeht?

Wir haben keinerlei Infos erhalten, außer zufällig über persönlichen Kontakt zu Professoren.

Viel studieren werden Sie dann wohl nicht mehr.

Ob der Unibetrieb irgendwann weitergeht, steht in den Sternen. Für uns ist das kein so großes Problem, aber viele griechische Studis werden das komplette Semester wiederholen müssen.

Wenn es eine demokratische Errungenschaft ist, dass die Polizei nicht auf den Campus darf, warum wird der dann verwüstet?

Das ist natürlich ein sehr widersprüchliches Vorgehen. Das hat damit zu tun, dass nicht nur Anarchisten und organisierte Studenten, sondern auch viele unpolitische Jugendliche, die keine Perspektive haben und deswegen sehr frustriert sind, bei den Demonstrationen mitmachen. Das führt oft zu politisch unmotivierter, sehr willkürlicher Gewalt.

Und was machen Sie jetzt?

Ich bleibe bis Ende Februar hier, auch über Weihnachten und schaue mir das weiter an.

Meinen Sie, es gibt bis Februar noch etwas anzuschauen?

Ja, die Studenten protestieren sicher noch eine Weile weiter. Griechenland ist in einer Umbruchsituation. Es gab schon vorher die Massenstreiks und die großen Hungerstreiks in den Gefängnisse. Alles zusammen genommen verändert sich hier und der Druck auf den Staat wächst. Ich bin sehr gespannt, was da noch passiert.

INTERVIEW: CHRISTIAN JAKOB