: Kampf um Stiere
aus Westkordofan BETTINA RÜHL
In der Staubwolke fängt sich das Morgenlicht. Sie schwebt wie ein glänzender Nebel über der roten Piste. Langsam bewegt sie sich näher, und aus dem Dunst löst sich schemenhaft die Herde. Sie wirkt zunächst wie ein großer Körper, dann werden die Leiber tausender Rinder erkennbar: ihre Hörner, Köpfe und Rücken, die in einem ruhigen Rhythmus auf und nieder wogen. Schließlich ist auch das Getrappel der Hufe zu hören, schwillt langsam an und mischt sich mit dem Gebrüll der Rinder und dem Gemecker der Ziegen. Allmählich dringen durch das Getrappel und Gebrülle auch die vereinzelten Rufe der Menschen, die mit ihrer Herde südwärts ziehen. Ihr Ziel sind die Weidegründe am Weißen Nil und am Gazellenfluss, rund 200 Kilometer weiter im Süden des ostafrikanischen Staates Sudan.
„Wenn der Regen aufhört, ziehen wir los“, sagt Mohammed Krefan, der die Weidegründe gut 100 Kilometer weiter im Norden schon vor zehn Tagen mit seiner Herde und seiner Familie verlassen hat. Dieses Signal zum Aufbruch gilt auch für seine beiden Brüder, mit denen sich der 48 Jahre alte Krefan auf dem Weg nach Süden zusammentut, und genauso für tausende andere arabische Nomaden, die im Zentralsudan mit und von ihren Herden leben.
Wenn der Regen aufhört, packen die Frauen am frühen Morgen Teekannen und Gläser, Wasserkanister und Schüsseln, Tonkrüge, Töpfe, Plastikplanen und Bettgestelle auf die Stiere, die sich geduldig beladen lassen, und auf die Kamele, die laut murrend im Sand liegen. Zuletzt werden Kleinkinder, neugeborene Kälber, Zicklein und Lämmer eingesammelt, und auf die zum Sattel umfunktionierten Betten gepackt. Nur eine halbe Stunde oder eine Stunde später, wenn die Sonne noch immer tiefer als die Baumkronen steht, ist der gesamte Hausrat auf den Tieren verstaut. Damit beginnt jedes Jahr der cattle treck: die Wanderung hunderttausender Rinder aus der trockenen Savanne in dem sudanesischen Teilstaat Westkordofan in die grüneren Regionen nahe der beiden Flüsse Weißer Nil und Gazellenfluss im benachbarten Teilstaat Unity. Dort, wo das Gras noch saftig steht und Wasserstellen in der Nähe sind, halten die Nomaden an und bleiben einige Tage.
Mohammed Krefan und seine Familie lassen ihre Tiere in der Nähe des Ortes Debab weiden. Hier verweilen sie auch, um ihre Herden gegen die Rinderpest, die Schlafkrankeit und andere tödliche Krankheiten impfen zu lassen. Den Impfstoff bekommen sie von der Deutschen Welthungerhilfe, die vergangenes Jahr zudem einige Nomaden im Gebrauch von Serum und Spritzen ausgebildet und ihnen Grundlagen der Tiermedizin vermittelt hat. Geschenke machen die Helfer nicht: Die Nomaden müssen das Serum bezahlen, damit die Impfkampagne auch ohne Unterstützung weitergehen kann.
Bis die Welthungerhilfe in der Region zu arbeiten begann, starben immer wieder etliche von Mohammed Krefans Tieren durch unterschiedliche Krankheiten, denn die tierärztlichen Dienste der Regierung funktionierten in der Praxis nicht. Dabei ist hier die ärztliche Hilfe für Rinder auch für die Menschen geradezu lebenswichtig. „Wir trinken die Milch unserer Kühe und Ziegen“, sagt der Nomade. „Wir essen Sauermilch und Butter. Wenn wir Getreide brauchen oder Zucker oder Kleidung oder Medikamente, verkaufen wir so viele Kühe oder Ziegen wie nötig ist, um das bezahlen zu können, was wir brauchen.“ Ohne ihr Vieh können die Nomaden nicht einmal heiraten, denn der Brautpreis wird in Rindern gezahlt. Der Verlust ihrer Herden ist deshalb für sie eine Katastrophe.
Von dieser Katastrophe werden die Menschen im Sudan immer wieder getroffen, denn in dem ostafrikanischen Staat wird seit 20 Jahren Krieg geführt. Die Gründe für die Kämpfe sind vielschichtig. Im Laufe der Jahre sind aus einem Krieg viele, oft regionale Konflikte entstanden: Die Menschen im christlich geprägten Süden fühlen sich von der islamischen Regierung verfolgt. Zahlreiche Milizen, die häufig die Seiten wechseln, kämpfen um die knappen Ressourcen des Landes: um Wasser, um Weidegrund, um Vieh und seit 1999 auch um die Kontrolle der Ölfelder am oberen Nil. Ausländische Unternehmen haben dort rund zwei Milliarden Dollar investiert, um den wertvollen Rohstoff aus dem Boden zu holen. Der Reichtum hat die Begehrlichkeiten aller verfeindeten Fraktionen geweckt.
Worum es bei den Kämpfen in Unity State im Einzelnen geht, ist für Außenstehende nur schwer zu durchschauen. Sue Garrood von der Welthungerhilfe arbeitet seit fast zehn Jahren im Sudan. Die 54-Jährige ist gerade mit einem Impfteam in der Region. Garrood hält die Rinder für einen der wichtigsten Kriegsgründe neben dem Öl: „Wer keine Rinder mehr hat, zählt nicht als vollwertige Persönlichkeit.“ Die Kämpfe und der häufige Wechsel der Allianzen seien besser zu verstehen, wenn man die Bedeutung des Viehs kenne.
Dabei ist das so genannte cattle raiding, das Plündern der Herden, im Leben der Nomaden nicht neu. Doch das traditionelle Geplänkel kostet immer mehr Menschen das Leben, seit mit Kalaschnikows statt mit Speeren gekämpft wird. Und seit die Regierung die Feindschaft zwischen Clans und Ethnien schürt, um sie für ihre Zwecke zu nutzen. So ist der alte Zwist, den die Nomaden und Hirten früher eher sportlich nahmen, immer blutiger geworden und hat jetzt politischen Charakter: Viele Dinka gehören heute zu den Rebellen und viele Nuer zu den beiden regierungsnahen Milizen. In die Motive des modernen Krieges mischt sich der alte Streit um das Rind.
Westkordofan, der Nachbarstaat von Unity, ist bislang noch friedlich und deshalb das Ziel vieler Vertriebener, die vor allem zu den afrikanischen Ethnien der Dinka und Nuer gehören. Damit das bislang gute Verhältnis zwischen ihnen und den arabischen Messiriya nicht gestört wird, hat die Welthungerhilfe 2000 auch in Westkordofan ihre Arbeit aufgenommen. Durch landwirtschaftliche Projekte und tierärztliche Dienste unterstützt sie die Vertriebenen und entlastet die „Gastgeber“. „Das Impfprogramm stabilisiert auch die politische Lage“, sagt Sue Garrood. Denn auf der Suche nach Wasser ziehen die Messiriya über die Grenze nach Unity – sozusagen in das Zentrum des Krieges. „Wenn sie dabei Krankheiten einschleppen, bringt das zusätzliche Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung.“
Mohammed Krefans Blick wandert zu dem Baum, der als Schrank und Kleiderhaken dient, an einem Ast hängt auch seine Kalaschnikow. „Wir haben keine andere Wahl, als nach Unity State zu gehen“, sagt er. „Vielleicht verlieren wir dort einige Tiere. Vielleicht werden einige von uns getötet. Aber wenn wir hierbleiben, sterben unsere Tiere ganz sicher, denn hier gibt es nicht genug Gras und nicht genug Wasser für alle.“
Vor Monaten wurde ihre Gruppe eines Morgens angegriffen. Die Rebellen kamen früh um fünf, töteten 27 Menschen und etliche Rinder und nahmen dann noch dutzende Kühe mit. „Aber wir haben 85 Rebellen getötet“, erzählt Ali Harun, ein Onkel von Mohammed Krefan. In Unity kann sich so ein Angriff jederzeit wiederholen – die Nomaden riskieren das eigene Leben für das Überleben ihrer Rinder. „Ich habe nichts anderes gelernt, als Rinder aufzuziehen und zu hüten. Ich könnte in der Stadt nicht überleben“, sagt Ali Harun. Deshalb verteidigt er seine Herde mit allen Waffen, die er kriegen kann. „Meine Väter haben mit Speeren gekämpft“, sagt er. „Wir haben jetzt genug Gewehre, um unsere Herden zu verteidigen.“ Die automatischen Waffen hätten sie von den Regierung, behauptet der Nomade.
Abseits der Männergruppe sitzt Hawa Harun an einer Feuerstelle und rührt in einem Topf mit Hirsebrei, dem Frühstück für die Familie. Der jüngste Sohn der 28-Jährigen trinkt an ihrer Brust. Hawa Harun ist in das Leben der Nomaden hineingeboren worden und hat sich an alles hier gewöhnt: an die Weite und den unverstellten Blick, an die Arbeit, die sie selbst als hart empfindet, und an den Lärm der Gefechte in Unity. Die Wanderung zu den Weidegründen kann eines Tages tödlich enden, das ist ihr so bewusst wie den Männern. Sie sagt: „Angst zu haben wäre eine Schande.“ Und sie wiederholt den Satz, den alle sagen: „Wir haben keine andere Wahl.“
Am nächsten Morgen ziehen die drei Familien weiter. Die Frauen packen den Hausrat auf die Kamele und Stiere, die Männer schultern ihre Kalaschnikows. Die Hufe rascheln erst leise und dann immer lauter im Gras, immer mehr Körper setzen sich in Bewegung und nehmen den ruhigen Rhythmus der Wanderung wieder auf. Allmählich wird das Geschrei der Tiere wieder leiser, die Rufe der Menschen verhallen, und das Rascheln der Hufe im Gras verebbt. In der Stille sind die Rufe der Vögel und das Zirpen der Insekten wieder zu hören. Dann entsteht eine neue Staubwolke über der Piste, und das Trappeln tausender Hufe kündigt die nächste Herde an.