: Der weise Onkel aus dem Morgenland
Eine unerschöpfliche Quelle für Poesiealbum-Weisheiten: Die Verfilmung des französischen Bestsellers „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ ist, ganz wie das Buch, ein romantisches Versöhnungsmärchen geworden – mit einem stets gütig lächelnden Omar Sharif in der Hauptrolle
VON DANIEL BAX
Es ist ein bisschen wie bei „Amélie“: die verwinkelten Gassen der Altstadt von Paris, die musikalisch durchflutete Atmosphäre der Fünfzigerjahre. Nur dass die Montmartre-Idylle hier einen betont multikulturellen Anstrich hat: Orthodoxe Juden streifen über die Bürgersteige, vorbei an gelangweilten Prostituierten, die vor den Hauseingängen stehen.
Das ist die wunderbare Welt des jungen Moses, genannt Momo, der hier allein mit seinem griesgrämigen Vater aufwächst; die Mutter hat sich schon vor langer Zeit davongemacht. Die Wohnung der beiden Junggesellen ist von trister Ärmlichkeit, und der latent depressive Vater besteht darauf, die Vorhänge geschlossen zu halten – angeblich, damit das Licht nicht die Einbände der Bücher ausbleicht. Doch wenn der Vater nicht da ist, dreht Momo das Transistorradio auf, um den neuesten Rock’-n’-Roll-Hits zu lauschen. Die Pubertät plagt ihn, und so sucht er seine Initiation auf dem Straßenstrich. Zu seinem 16. Geburtstag knackt er sein Sparschwein und trägt das Geld zu einer der Prostituierten, die er aus seinem Zimmerfenster beobachten kann.
Da das Geld jedoch nicht ausreicht, um die amourösen Sehnsüchte auf Dauer zu finanzieren, beginnt der junge Moses, im nahe gelegenen Onkel-Ibrahim-Laden ein paar Lebensmittel zu klauen und das Einkaufsgeld einzubehalten. So macht er Bekanntschaft mit dem stets gütig lächelnden Ladenbesitzer (Omar Sharif), der dem kleinen Dieb nicht etwa Hausverbot erteilt, sondern vielmehr Lektionen über das Leben an sich. Es entwickelt sich eine etwas unwahrscheinliche Freundschaft zwischen dem jüdischen Jungen und dem türkischen Lebensmittelhändler, den alle in der Gegend für einen Araber halten.
Das Szenario erinnert an „Karate Kid“ – nur dass der weise Onkel aus dem Morgenland seinem Schüler eben nicht fernöstliche Weisheiten predigt, sondern nahöstliche. Seinen Koran, auf den sich Herr Ibrahim so gerne beruft, versteht er nämlich als eine Art Poesiealbum, aus dem er stets aufs Neue eine Spruchweisheit zu zaubern weiß.
Der Film hält sich recht brav an die Romanvorlage von Eric-Emmanuel Schmitt, die schon seit Monaten in den Beststellerlisten steht, mit einem Unterschied: Das schmale Buch hat man schneller durchgelesen. Der Film dagegen schleppt sich dahin, sodass man sich wünscht, etwas von dem Tempo der Rock’-n’-Roll-Musik würde sich auf ihn übertragen.
Neuer Schwung kommt in die Geschichte, als Momos Vater sich eines Tages aus dem Staub macht und den Jungen allein lässt, worauf Monsieur Ibrahim ihn kurzerhand adoptiert. Das gibt auch seinem Leben eine Wende: Bald lässt er sich einen Sportwagen vors Lebensmittelgeschäft liefern und begibt sich mit seinem Schützling auf Spritztour in Richtung Türkei. In Istanbul angekommen, besuchen sie Kirchen und Moscheen, ein weiteres Symbol für die friedliche Koexistenz der Religionen. Dann fahren sie tiefer in anatolische Landschaften, wo sich die Derwische in ihren Klöstern in Trance drehen und die Mädchen auf der nächtlichen Dorfstraße Twist tanzen: ein stark italienisch eingefärbtes Postkartenbild der Fünfzigerjahre-Türkei. Die Reise endet abrupt im Heimatdorf des Herrn Ibrahim, als dieser nach einem Autounfall auf dem Sterbebett liegt und seinem Schützling seine letzten Spruchweisheiten vermacht.
Man fragt sich, warum ein derartiges Versöhnungsmärchen gerade jetzt großen Anklang findet, wo die interreligiösen Beziehungen gerade in Frankreich so angespannt sind wie noch nie. Aber vielleicht ist ja genau das der Grund: die Sehnsucht nach einem unschuldigen Urzustand der Harmonie.
So wird auch der Film sein Publikum finden, allein schon wegen des in Würde gealterten Omar Sharif: Der war dem Westen ja schon immer der liebste Märchenonkel aus dem Orient.