Verliebt in Autobahnkreuze

Cannes Cannes (VIII): Das Leben verschiebt sich in Richtung Film. In Vincent Gallos „The Brown Bunny“ gehen Reduktion und Größenwahn eine seltsame Bindung ein. Ein Wunder nur, dass Gallo nicht die Rolle der weiblichen Hauptfigur selber spielt

von CRISTINA NORD

Einer der jungen Laiendarsteller aus Gus Van Sants „Elephant“ geht die große Treppe im Palais du Festival herunter. Im Film gibt er einen der beiden Mörder, die in einer High School ein Massaker anrichten. Jetzt ist er ein paar Schritte hinter mir. Für einen Augenblick verschiebt sich das wenige, das in Cannes vom wirklichen Leben bleibt, Richtung Film, und ich erschrecke. Dann aber sehe ich, dass der junge Mann statt des Camouflage-Outfits einen Smoking trägt. Und mag das Palais auch an eine Gesamtschule mit Marmorboden erinnern, eine High School ist es nicht.

Man setzt auf Reduktion in diesem Jahr: Wie berichtet, lässt Lars von Trier „Dogville“ in einer Theaterkulisse spielen. Auf dem schwarzen Bühnenboden sind die Umrisse der Häuser und der Verlauf der Straßen mit Kreide eingetragen. Nur wenige Requisiten sind vorhanden, ein Fensterrahmen hier, ein Sessel dort, der Rest muss in der Vorstellung passieren. In seinen drei Stunden verlässt „Dogville“ nur einmal diese Bühne. Andere Regisseure gehen nicht ganz so weit, und dennoch lässt sich nicht leugnen, dass der geschlossene Raum sich großer Beliebtheit erfreut. Als Location dienen oft entlegene Häuser. François Ozon bestreitet „Swimming Pool“, indem er den größten Teil des Films in einer Ferienvilla ansiedelt. Michael Hanekes „Wolfszeit“ beschränkt sich zwar nicht auf einen einzigen Schauplatz, geht dafür aber sehr zurückhaltend mit Licht und Farbe um.

Dann betritt Vincent Gallo die Bühne und treibt die Reduktion so weit, dass die Kritiker während der Vorführung um zehn Uhr abends entweder einschlafen, das Kino verlassen oder in Spott und Gelächter verfallen, sobald ausnahmsweise etwas passiert auf der Leinwand. Warum? Gallo, der Hipster mit dem Herz für George W. Bush, hat sich als Autorenfilmer ernst genommen und für „The Brown Bunny“ alles selbst gemacht: Er hat produziert, hat Regie geführt, er hat das Drehbuch verfasst und die Hauptrolle gespielt, er war der Director of Photography und hat selbst (wenn auch nicht in allen Szenen) die Kamera geführt, und schließlich zeichnet er für das Produktionsdesign verantwortlich. Es nimmt vor diesem Hintergrund Wunder, dass er die Rolle Daisys, der weiblichen Hauptfigur, nicht selbst übernommen, sondern sie an Chloé Sevigny vergeben hat.

Während der ersten Stunde von „The Brown Bunny“ geschieht wenig. Gallo fährt Auto und manchmal Motorrad, die Reise führt von Küste zu Küste, von Osten nach Westen. „The Brown Bunny“ ist in die langen Travellings der Kamera verliebt. Das erlaubt dem Zuschauer, US- amerikanische Autobahnkreuze und Vorstadtstraßen aus der Perspektive des Fahrers zu erkunden und dabei die Freuden der longue durée im Kino zu genießen. Schön sind die Motels, in denen die Hauptfigur, Bud, unterkommt. Man sollte diesem privilegierten Ort US-amerikanischer Kinogeschichte eine eigene Untersuchung widmen oder einen Filmessay im Stile von Heinz Emigholz’ „Goff in der Wüste“. Manchmal lernt Gallo junge Frauen kennen. Sie tragen den Namen von Blumen: Violet, Lilly, Rose. Er pflückt sie und vergisst sie dann, und am schönsten ist eine Motorradfahrt durch eine Salzwüste. Gallo holt das Motorrad aus dem Kleintransporter, bockt es kurz auf, bockt es wieder ab, zieht sich die Jacke aus, und los geht es. Hinein in die weiße Wüste mit ihren Spiegelungen, in denen das Motorrad verschwindet wie ein Insekt.

Diese erste Stunde von „The Brown Bunny“ wäre genau richtig für einen Nachmittag in der Black Box einer Kunstausstellung. Man könnte kommen und gehen, sich auf die Dauer einlassen und sich mit den Ausfallstraßen anfreunden. Aber tief in seinem Herzen will Gallo gar nicht abstrahieren und reduzieren, sondern eine Geschichte erzählen, und zwar die klassische Kinogeschichte: Boy meets girl. Das führt dazu, dass in der zweiten Hälfte recht viel passiert, wenn auch aus der Rückschau heraus. Des bösen Endes kann man sich dabei sicher sein, genauso wie der Auflösung aller Rätsel, die der Film entworfen hat. Gallo ist so sehr in sich selbst und seinen Körper verliebt, dass seine Obsession exhibitionistische Züge annimmt. Es ist diese von jedem Maß befreite Eitelkeit, die einem „The Brown Bunny“ verleidet.