: Gebt den Kranken Zucker und Stärke
Plazebo-Medizin als Therapie: Blaue Pillen beruhigen, rote regen an – und das Hautanritzen wirkt wie eine OP
Plazebo ist eigentlich in der Medizin kein gern gehörtes Wort, steht es doch für „Scheinmedikament“ und damit gewissermaßen für Lug und Betrug. Dennoch: Die Plazebo-Medizin boomt. In den USA zum Beispiel zählen schätzungsweise ein Drittel aller verschriebenen Arzneimittel zu den Plazebos, wobei man – was in Deutschland verboten ist – den Patienten durchaus Pillen aus Milchzucker oder Stärke verordnet.
Doch auch hierzulande geben in anonymen Fragebögen immer mehr Ärzte das wissentliche Verordnen von wirkungslosen Pseudoarzneien zu. Allenthalben sind diese Mediziner jedoch nicht unbedingt Scharlatane, denn Plazebos sind alles andere als wirkungslos.
So erreichen Plazebos bei Bluthochdruck, Arthritis, Asthma und Bronchitis Erfolgsquoten von etwa 30 Prozent. In Studien an depressiven Patienten steigen die Quoten sogar auf über 70 Prozent, womit sie selbst etablierte Arzneimittel in den Schatten stellen. Bleibt die Frage, wieso Patienten auf die eigentlich wirkungslosen Arzneimittel mit Besserung oder gar Heilung reagieren.
Die Antwort liegt zum einen darin, dass gerade in der Verordnung des Mittels durch einen Arzt ein Akt der Zuwendung liegt – und Zuwendung wirkt bekanntermaßen förderlich auf Heilungsabläufe. Außerdem ist ein Medikament nicht nur chemisch aktiv, sondern auch der Träger von bestimmten Informationen, „und diese können“, wie Privatdozent Roland Wörz vom Schmerzzentrum Bad Schönborn ausführt, „bereits therapeutisch wirksam sein“.
So hängt der Plazeboeffekt von der Darreichungsform des Mittels ab. Am effektivsten sind in dieser Hinsicht Spritzen, dann folgen Tabletten, Pillen und all die anderen Dinge, die geschluckt werden müssen.
Und unter den Pillen und Tabletten sorgen die Einfärbungen schon für beachtliche Heileffekte. „Die Farbe Rot signalisiert etwas Starkes oder Aktives“, erklärt Andreas Zeller von der Universitätspoliklinik Basel, „Grün und Blau werden hingegen als beruhigend, entspannend oder sanft empfunden. Die Farbe Weiß bedeutet einerseits rein und unbefleckt, andererseits aber auch neutral und indifferent.“
Die Pharmaindustrie bedient sich schon länger dieser Farbeffekte. So sind schlafanstoßende und beruhigende Medikamente häufiger blau oder grün, während Stimulanzien und Antidepressiva eher rote oder gelbe Töne zeigen.
Relativ hoch einzuschätzen ist auch der Plazeboeffekt von Operationen. Als der texanische Chirurg Bruce Moseley in einer Studie zehn Arthritispatienten am Knie operierte, waren danach alle rundum zufrieden und auch weitgehend frei von Schmerzen – dabei hatte man bei fünf von ihnen lediglich die Haut angeritzt.
Bei solchen Effekten ist es kein Wunder, dass immer mehr Mediziner fordern, Plazebos als feste Therapie zu etablieren. Etwa bei Krankheiten wie fortgeschrittenem Krebs, in denen es keine wirksame Therapie gibt. Daneben könnten Pseudoarzneien im Rahmen einer ärztlichen Verzögerungstaktik eingesetzt werden. Denn viele Kranke erwarten, dass ihr Leiden sofort durch eine konkrete Maßnahme attackiert wird. Hier kann dann der Arzt dem „Therapiewunsch“ zunächst nachkommen und ein ungefährliches Scheinmedikament verordnen, um dadurch Zeit dafür zu gewinnen, sich ein besseres Bild vom Patienten und seiner Krankheit machen zu können.
Nichtsdestoweniger bleibt die Plazebo-Medizin für den Arzt ein Drahtseilakt, denn letzten Endes bleibt jedes Scheinmedikament doch eine Art von Schwindel. Und es führt den Mediziner in Versuchung, sich über die Gabe von harmlosen Plazebos den Patienten auch dann noch als Kunden zu erhalten, wenn ihm keine wirkungsvolle Therapie mehr für ihn einfällt. JÖRG ZITTLAU