piwik no script img

Archiv-Artikel

Lettische Geschichtspolitik

Die lettische Außenministerin Sandra Kalniete setzte zur Eröffnung der Buchmesse National-sozialismus und Kommunismus gleich. Ihr Anliegen mag verständlich sein, ihr Geschichtsbild nicht

VON CHRISTIAN SEMLER

Pünktlich zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse kam es vorgestern Abend zum Eklat. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, verließ mit einigen Mitarbeitern während der Rede der lettischen Außenministerin Sandra Kalniete den Saal. Der Satz Kalnietes „Dokumente wie Lebensgeschichten der Opfer bekräftigen die Wahrheit, dass die beiden totalitären Regime – Nazismus und Kommunismus – gleichermaßen kriminell waren“, war für Korn „unerträglich“.

Wenn es nur um den Streit ginge, ob der Begriff des „Totalitarismus“ tauglich und ob mit seiner Hilfe die nationalsozialistischen und kommunistischen Regime gleichgesetzt werden können, so wäre Korns Reaktion unverständlich. Aber es geht natürlich um mehr, nämlich darum, dass Lettlands Außenministerin ihr Volk ausschließlich als Opfer porträtierte, ohne ein Wort über die „totalitäre Versuchung“ zu verlieren, der sehr viele Letten während der Nazi-Okkupation erlagen: 80.000 Letten gehörten der SS-Legion an, weitere 30.000 taten Dienst bei der Polizei. Aus den Reihen beider Einheiten rekrutierten sich die Mordkommandos, die unter Befehl und Aufsicht der deutschen Einsatzgruppen bei der fast vollständigen „Endlösung“ für Lettlands Juden behilflich waren. Natürlich trug der Terror des sowjetischen Sicherheitsdienstes in den zwei Jahren der sowjetischen Okkupation 1939 bis 1941 dazu bei, dass viele Letten die Deutschen zunächst als „Befreier“ betrachteten. Im Juni 1941 wurden fast 20.000 Letten nach Sibirien deportiert, darunter 5.000 Juden, eine gemessen am Bevölkerungsanteil überproportional hohe Zahl. Lettlands Juden waren also keineswegs die „Nutznießer“ der sowjetischen Okkupation, die deswegen Hass auf sich gezogen hätte. Der virulente Antisemitismus unter der lettischen Bevölkerung ist älteren Datums. Er wurde schon in den 30er-Jahren, zurzeit der Unabhängigkeit, unter dem autoritären Regime von Karlis Ulmanis kräftig geschürt.

Diese Fakten werden in Lettland keineswegs unter den Tisch gefegt, sondern bilden den Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Deren Wellenschlag hat auch die deutsche Öffentlichkeit erreicht. Warum also das Schweigen der Außenministerin bei ihren Darlegungen zum Totalitarismus? Studiert man ihre Rede, so wird schnell klar, dass sie die Erfahrung der osteuropäischen Völker mit zwei Diktatoren gegenüber einer Haltung im Westen in Anschlag bringen wollte, die diese Erfahrungen und die Lehren daraus abtut oder gering schätzt. Kalniete wurde selbst in der sibirischen Verbannung geboren, die Großeltern starben dort, der Familie wurde erst nach 16 Jahren die Rückkehr nach Lettland erlaubt. Kein Ausnahmefall, sondern Alltagsgeschichte. Der Gulag und die Ermordung ganzer Völkerschaften im Herrschaftsbereich der Sowjetunion gehören zur europäischen Geschichte. Dies die Botschaft Kalnietes. Angesichts der Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber dieser doppelten Leidensgeschichte im Westen ein verständliches Anliegen.

Nur: Kalnietes Geschichtsbild ist vollständig von einem Sprachgebrauch des Begriffs „Totalitarismus“ geprägt, der nichts erklären, sondern moralisch verdammen will. Der Totalitarismus gilt, wie der polnische Ideengeschichtler Pawel Spiewak in seiner Studie zum „Antitotalitarismus“ herausgearbeitet hat, als das radikal Böse, die Funktionsträger der realsozialistischen Regime sollen „moralisch entwürdigt, ihnen soll alle Ehre genommen werden“. Dem Totalitarismus wird in abstrakter Weise die freiheitliche Demokratie als Norm entgegengesetzt. Deshalb kennt diese Art des Denkens auch keine Differenzierung. Sei es, was die Charakterisierung der realsozialistischen Regime im Niedergang anbelangt, sei es der freiheitsgefährdenden Tendenzen in westlichen Demokratien. Die politischen Schlussfolgerungen aus dieser Haltung sind gefährlich. Kalniete gehört zu den Verfechtern des Irakkriegs der USA, weil kraft der Invasion den Menschenrechten eine Bresche geschlagen worden sei. Imperiale Interessen? Geltung der Menschenrechte auch in den USA? Völkerrecht? Keine Rede davon bei der in „International Law“ promovierten Politikerin.