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Archiv-Artikel

„Sehnsucht nach Gemeinschaft“

Der taz-Kongress in Berlin blickt in die Zukunft: Für Klaus Burmeister ist das tägliches Geschäft

taz: Herr Burmeister, in Ihrem jüngsten Zukunftsszenario für Deutschland und Europa im Jahr 2020 schreiben Sie, wir entwickelten uns zu einer Gesellschaft der „Schwärme“. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Klaus Burmeister: „Schwärme“ erinnert an die Fischschwärme, die nicht zusammenstoßen, die sich ständig neu konfigurieren, durchaus individuell sind, aber sich ständig zusammenfinden, um Aufgaben zu bewältigen. Das Bild trägt und zeigt die Herausforderungen: weg von den großen, unbeweglichen Tankern, hin zu kleinen, flexiblen Einheiten, die in der Lage sind, auch große Aufgaben zu bewältigen. Das gilt für uns übrigens sowohl für die Ökonomie als auch für soziale Bewegungen.

Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wird weiterbestehen bleiben, konstatieren Sie. Für wen gilt denn das „Schwarmparadigma“ – nur für Mittelschicht aufwärts?

Wie oft in sozialen Bewegungen sind einige Vorreiter und Avantgarde, aber das Grundprinzip wird sich in alle gesellschaftlichen Schichten verbreiten. Es werden alle mitgezogen. Auch früher waren soziale Bewegungen Vorreiter – die Ideen der Frauenemanzipation etwa tauchen längst überall wieder auf.

Sie schreiben, dass etwa „Solidarität“ keine Rolle mehr spielen wird, dass aber der Einzelne in Zukunft Verantwortung auch für andere und für die Gesellschaft übernehmen wird. Wie kommen Sie darauf?

Der klassische Begriff der Solidarität ist inzwischen entleert. Es hilft ja nichts zu sagen, dass wir das gern wieder hätten. Wir glauben aber, dass es nicht nur Individualisierung gibt und jeder für sich allein steht. Es zeigt sich schon jetzt, dass es eine Sehnsucht gibt nach neuen Formen des Austauschs und der Gemeinschaft. Man will trotz starker Individualität irgendwo aufgehoben sein.

Sie sagen, dass sich Europa zu einer dynamischen Region entwickeln wird, die ungeheure Innovationskräfte freisetzt. Wie geht das mit der Depressivität von heute zusammen?

Leider ergibt sich ein Lernen oft nur in zugespitzten Situationen. In so einer befinden wir uns auf allen Ebenen, die etwas mit der Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft zu tun haben. Das bietet die Chance, dass Europa sich besinnt und dort weitermacht, wo es irgendwann aufgehört hat: neue Antworten und Lösungen zu finden – neue Verkehrssysteme, neue Energieversorgungssysteme usw. Das wird nicht von alleine kommen. Aber es gibt genügend Potenziale.

Zur Entstehung solcher Zukunftsbilder: Wie ist das Verhältnis von Grundannahmen und dem, was Sie sich dann frei ausdenken?

Wir versuchen festzustellen, was treibende gesellschaftliche Veränderungskräfte jenseits von Modeerscheinungen sind – im ökonomischen wie im sozialen Bereich. So genannte Schlüsselfaktoren. Das ist das Gerüst, auf dem wir mögliche Zukunftsbilder entwerfen. Da wir aber die Zukunft nicht kennen, nähern wir uns mit Szenarien. Die sind in sich konsistent. Wir schauen uns die Wechselwirkung der verschiedenen Schlüsselfaktoren an und bekommen so ein Zukunftsbild. Dann schauen wir, ob unvorhersehbare Ereignisse wie der 11. September 2001 das verändern könnten oder ob das Szenario schlüssig bleibt. Am Schluss steht dann ein Diskussionsangebot, keine Prognose. Wir machen keine Vorhersagen.

Sie müssen sich aber damit auseinander setzen, dass Ihre Szenarien doch als Prognosen verstanden werden. Wo haben Sie denn in der Vergangenheit mal richtig daneben gelegen?

In den Grundlinien haben wir uns nicht geirrt. Wir beobachten die Szenarien und die Trends täglich und bauen das kontinuierlich in die Szenarien ein. Wir machen keine Prognosen wie die Zukunftsforschung der 60er-Jahre, deshalb liegen wir auch nicht so daneben. Klar, dadurch entziehen wir uns auch der Kritik. Aber die Szenarien sollen auch immer ein Stück wehtun und wachrütteln. Wenn alles nur so formuliert wird, wie es sich ohnehin jeder denkt, haben wir etwas falsch gemacht.

Sie arbeiten für Auftraggeber vor allem aus der Wirtschaft. Wie weit geben Sie denn deren Wünschen nach?

Wer uns beauftragt, will gerade die Sicht von außen, um das eigene Bild zu schärfen. Wir machen klar, wie wir zu den Ergebnissen kommen, und können das weitgehend unabhängig tun – eine sehr befriedigende Aufgabe übrigens.

Unser Kongress am 16. und 17. April will ja auch schauen, wohin linkes Denken gehen kann. Wird man in 20 Jahren mit dem Begriff „links“ eigentlich noch etwas anfangen können?

Fragen wie die nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit werden uns erhalten bleiben. Ob da „links“ drübersteht, wird man sehen. Aber die Fragen werden sich nicht erledigt haben.INTERVIEW: BERND PICKERT