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Archiv-Artikel

Mächtige Geister

Michel Winocks Meisterzählung über die Intellektuellen im 20. Jahrhundert – von Zola über Sartre & Co. bis zu Bourdieu

VON ULRICH BRIELER

Die intellektuelle Landschaft Frankreichs hat wie keine zweite im 20. Jahrhundert enorme Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Umso überraschender ist die Tatsache, dass bisher keine Geschichte der französischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert vorlag. Dies ist nun anders. Michel Winocks 1997 in Paris erschienene Studie „Das Jahrhundert der Intellektuellen“ füllt diese Lücke. Michel Winock ist der Historiker dieser Epoche der französischen Intellektuellengeschichte. Mit Jacques Julliard hat er das „Dictionnaire des intellectuels français“ ediert, ein über 1.000-seitiges Kompendium der intellektuellen Existenz im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Seine zahlreichen Einzeluntersuchungen hat er in diese große Studie münden lassen, die nun in einer vorzüglichen deutschen Übersetzung vorliegt.

Ohne Frage: Dies ist ein Standardwerk. Es entwirft nicht nur das historische Gelände, in dem die intellektuellen Figuren entstehen und wirken, sondern setzt zugleich theoretische und ästhetische Maßstäbe für den Umgang mit den verwobenen Leben der Zola, Gide und Sartre. Diese Arbeit muss von nun an die Grundlage jeder Beschäftigung mit der französischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts bilden.

Winocks Buch ist eine große Erzählung von den politischen Interventionen der Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, die durch ebendiese Interventionen zu Intellektuellen werden. Jeder kennt die besonders klug daherkommende Frage: Kann die Literatur, die Philosophie oder die Kunst die Welt verändern? Tatsächlich tun sie es täglich, und Winock entwirft souverän die Geschichte dieser geistigen Einsätze. Er gliedert sein Jahrhundert der französischen Intellektuellen vor dem Hintergrund der Epochendominanz einer großen Figur. Maurice Barrès, der literarische Dandy, der zum extremen Nationalisten wird, steht so für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. André Gide, den sein Weg vom Nonkonformisten über den Philokommunisten zum skeptischen Zeitdiagnostiker führt, ist der intellektuelle Mittelpunkt der Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg. Jean-Paul Sartre, der Erfinder des Engagements und des Existenzialismus, verkörpert in seiner Figur die lange Hegemonie der Linksintellektuellen.

Winock begreift die Geschichte als einen offenen Raum und die Intellektuellen als Propheten der Optionen, die jede historische Situation besitzt. Die Gegenwart ist stets umkämpft, und so fungieren die symbolischen Auseinandersetzungen um die Wirklichkeit, wie sie ist und wie sie sein sollte, als Motoren dieser Intellektuellengeschichte. Man schreibt gegen ein Übel an – für eine andere Wirklichkeit, man attackiert die herrschenden Gemeinheiten – im Namen anderer Wahrheiten.

Am Anfang sind es immer wenige, kleinste Gruppen von Freunden und Gesinnungsgenossen, die den Dingen Beine machen. Und wer die gängigen Dummheiten angreift, muss wissen, was er tut. Zola trifft auf erbittertsten Widerstand der Nationalisten, Gides Anklage der Kongo-Gräuel und sein homosexuelles Bekenntnis in „Cyrodon“ bringen ihm tiefste Missachtung ein; und Sartre verfehlen in der Endphase des Algerienkriegs die Bomben französischer Militärs nur knapp. So entstehen in 62 Kapiteln kleine Miniaturen aus Licht und Schatten. Die Geschichte dieser Intellektuellen ist ebenso voller Brüche und Sackgassen, wie ihre Akteure alles andere als moralisch exemplarisch sind. Aber sie stehen in der Mitte der Welt, deren Zustand ihr zentrales Anliegen ist.

Unter der Hand entwirft Winock so eine Charakterkunde intellektueller Haltungen. Die Ernsthaftigkeit begegnet dem Enthusiasmus, der Mitläufer dem Konvertiten, der Gläubige dem Skeptiker, der maßlose Übermut trifft auf die schiere Ohnmacht. Diese Geschichte steckt so voll Extremismen und Dummheiten, großen Entwürfen und kurzatmigen Engagements. Eines aber ist sie nie: uninteressiert am Zustand der Welt, also langweilig.

En passant räumt Winock mit einigen Grundirrtümern auf, etwa dem, dass der Geist immer links steht. Für Frankreich gilt dies ebenso wenig wie anderswo. Tatsächlich dominiert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein rechtsintellektuelles Milieu, das heftige Gegenreaktionen hervorruft. Nur in magischen Momenten wie am Ende der Dreyfus-Affäre oder während des kurzen Sommers der Volksfront gelingt es den linken Intellektuellen, die Meinungsführerschaft zu gewinnen. Das Sagen in der Tagespresse, in den literarischen Zeitschriften, in der Académie française haben die Barrès, Maurras und Co. Selbst während der Résistance ist die Zahl der linken Helden beschränkt. Malraux geht in die innere Emigration, und Sartre schreibt „Das Sein und das Nichts“.

Erst die Jahre nach 1945 wälzen die intellektuelle Landschaft Frankreichs vollständig um. Kollaboration und Résistance, die Aura der Kommunistischen Partei und die Säuberung der Rechtsintellektuellen, der Durchbruch des Marxismus: Diese Jahre bilden nach der Dreyfus-Affäre einen zweiten Punkt null für die französischen Intellektuellen. Neue Zeitschriften wie die Temps modernes oder die Critique entstehen, das Engagement und die historische Figur des Linksintellektuellen wird geboren. Die Dekolonialisierung und die Entstalinisierung der 50er-Jahre beeinträchtigen die Hegemonie der Generation Sartres, bringen sie aber nicht zum Einsturz. Der Geist der linken Kritik findet seine Fortsetzung bei dissidenten Marxisten und Situationisten, wie der Mai 68 diese Konstellation verlängert. Erst das Versanden der kulturrevolutionären Strömungen der 70er-Jahre und die durch Solschenizyns „Archipel Gulag“ aufgenommene Kritik des Totalitarismus wendet das Blatt. Auf tritt der Liberalismus und mit ihm der liberale Intellektuelle.

Damit schließt sich für Winock der Kreis. Denn der liberale Intellektuelle ist ein Produkt der Entzauberung. Der liberale Intellektuelle fühlt sich in der goldenen Mitte wohl, er verachtet die Extreme. Winock kürt daher einen verborgenen Helden seiner Geschichte: den Politologen Raymond Aron. Aron, der ewige Gegenspieler Sartres, erscheint als Verkörperung reiner Sachlichkeit, unbestechlich und unangreifbar in seinem Urteil, ein Mann, der sich nie utopischen Flausen hingab.

Ein mit 800 Seiten prall gefülltes Buch kann nicht ohne Mängel sein. Der sichtbarste ist die Konzentration auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Über 600 Seiten sind den Ereignissen von der Dreyfus-Affäre bis zu den Stalinismus-Debatten der späten 40er-Jahre gewidmet. Das Jahrzehnt nach 1968 wird dagegen im Schnelltempo durchlaufen. Die Diskussionen der 80er- und 90er-Jahre um das Ende des Kommunismus, den Generalstreik von 1995 oder den neuen Typus des Medienintellektuellen werden kaum zum Thema. Bourdieu etwa, der Protagonist des „kollektiven Intellektuellen“, taucht lediglich in einer Fußnote auf, Althusser, Barthes und Debord werden nur marginal erwähnt.

Man kann zudem den engen Politikbegriff beklagen, der diese Studie beherrscht. Winock markiert die politischen Einsätze der Intellektuellen, nicht aber die Veränderung des Politischen, die über diese Einsätze erfolgt. Die kulturellen Avantgarden wie die Surrealisten erscheinen so bestenfalls als Akteure im parteipolitischen Feld, nicht als Kritiker der vorherrschenden Hegemonien, Wirklichkeiten und Alltagswelten. Ihr symbolisches Kapital rührt aber gerade aus dieser Erweiterung des Politischen. Die französischen Intellektuellen haben Dinge ausgesprochen und getan, die andere nicht zu denken wagten. Ihr Terrain war die Grenzüberschreitung, das Zerreißen der Konventionen.

Mit diesem Defizit geht das Fehlen einer oft verkannten Dimension einher. Dreyfus und der Militarismus, die Surrealisten und der Marokkokrieg, Gide und der Kongo, Sartre und der Kolonialismus, Foucault und die Gefängnisse, Bourdieu und der Neoliberalismus: Am Anfang steht die Empörung. Der Affekt stimuliert das Denken und produziert ein Wissen, das andere Menschen anzieht und mitreißt. Man könnte eine Geschichte des Zorns der französischen Intellektuellen schreiben – und vielleicht liegt in diesem „Écrasez l’infâme“ das eigentliche Geheimnis ihrer Attraktion. Das Geplapper der Medienintellektuellen ist nicht das letzte Wort. Die Produktivität der Kritik findet ihre heutigen Zeugen in Attac oder Le monde diplomatique, in Jacques Rancière oder Michel Onfray.

Aber diese Lücken sind verschmerzbar, bietet Winock doch eine Überfülle an biografischen, sozialen, politischen und ideologischen Informationen. Ohne die Kenntnis dieses historischen Hintergrunds ist jede Beschäftigung mit den französischen Meisterdenkern Kaffeesatzleserei oder wird zur bloßen Philologie. Auch das „Ende des Intellektuellen“, wie Winock fragend sein letztes Kapitel nennt, hat hier seine Geschichte. Aber je häufiger ihm der Totenschein ausgestellt wurde, um so sicherer kann man sein, dass er wieder aufersteht: als eine Figur, die auf keiner Gehaltsliste steht, die niemand braucht und die deshalb unverzichtbar ist.

Michel Winock: „Das Jahrhundert der Intellektuellen“. Aus dem Französischen von Judith Klein. Universitätsverlag Konstanz 2003, 886 Seiten, 49 Euro