: Zwei Gesichter unterm Tuch
Kopftuchgegner sehen in dem verhüllenden Stoff vor allem ein Symbol der Unterdrückung von Frauen. Für junge Neomusliminnen kann ihr Kopftuch aber auch Freiheit, Würde und Identität bedeuten
VON HEIDE OESTREICH
„Steck’s dir doch in’n Arsch!“, gellt es über die Straße in Berlin-Kreuzberg. Man möchte gar nicht so genau wissen, was der arme Junge sich wohin stecken soll. Eher fragt man sich, wie dieses sittsam mit einem Kopftuch verhüllte Mädchen dazu kommt, derart explizite Aufforderungen von sich zu geben. Aber sie ist schon kichernd mit ihrer Freundin von dannen gezogen. Hm.
Nicht nur in Berlin-Kreuzberg kommt einem der Verdacht, dass mit den jungen Musliminnen nicht mehr alles so ist wie früher. Da klimpern fliegenbeindicke Wimpern, heben sich lasziv schwer blau getönte Augenlider, und das Kopftuch flattert über einem Strickjäckchen, das an entscheidenden Stellen bedenklich spannt. Am Hinterkopf frisiert sich die Muslimin noch einen Extrabürzel, das macht die Kopfform unterm Tuch edler. Wer diese Mädchen vor Augen hat, der wundert sich ein bisschen, wenn die Politik steif und fest behauptet, das Kopftuch sei ein Instrument der Unterdrückung und widerspreche dem Grundgesetz.
Aber vielleicht lassen wir uns ja täuschen von dem pubertären Auftreten der jungen Damen. Vielleicht ist der Lidschatten nur noch das letzte Aufbäumen, bevor das Gesetz des Patriarchats zuschlägt und Strickjäckchen, Wimperntusche und Augenaufschlag unter der Haube der Zwangsheirat verschwinden. Diese Mädchen, die jetzt auf Demos „Mein Kopf gehört mir“ skandieren, vielleicht sind die von ihrer Moschee geschickt worden, wie von einer Partei. Um den Islam zu verteidigen, gegen die Ungläubigen. Das scheint nicht ganz abwegig.
Bei öffentlichen Diskussionen um das Kopftuch sind regelmäßig betuchte Abordnungen von Milli Görüs da. Die Organisation wird vom Verfassungsschutz unter „Islamismus“ eingereiht. Sie ist Nachfolgepartei der AMGT, die es sich zum Ziel gemacht hatte, türkische Immigranten gegen alle kulturellen und politischen Einflüsse Deutschlands abzuschirmen. Doch für Politik interessieren sich ohnehin nicht viele Jugendliche, für politische Organisationen noch weniger, und in die Moschee gehen die jungen Muslime auch nicht gerade besonders häufig. Gerade mal drei Prozent, ergab eine Telefonumfrage des Zentrums für Türkeistudien, engagierten sich in den Moscheen von Milli Görüs.
Das beantwortet aber noch nicht die Frage, ob das Kopftuch nicht doch der Ausdruck eines unterdrückten Mädchenlebens ist, das nur zaghafte Ansätze macht, das patriarchale Gesetz durch Lidschatten zu unterlaufen.
Schon seit einigen Jahren hat auch die Sozialforschung junge Frauen entdeckt, die „neue Formen muslimischer Lebensführung“ ausprobieren, so der Titel einer Studie von Gritt Klinkhammer. „Neo-Musliminnen“ nennt die Soziologin Sigrid Nökel sie. Und Yasemin Karakasoglu hat explizit Lehramtsstudentinnen mit Tuch zu ihrem Glaubensverständnis befragt. Aus den Ergebnissen ihrer Interviews lässt sich ein Mosaik der neuen Muslimin zusammensetzen.
Wer oder was bewegt die Heranwachsenden, ein Tuch zu tragen? Manchen Mädchen wird das Tuch tatsächlich von der Familie nahe gelegt. Sie sträuben sich eine Weile, weil sie nicht anders aussehen wollen als die anderen. Aber viele eignen sich das Tuch dann regelrecht an, als Zeichen ihrer Religion.
Nökel zitiert ein Mädchen, das in der sechsten Klasse zum ersten Mal mit dem Tuch in der Schule erscheint: „Natürlich waren alle erst mal erstaunt. Dann hieß es natürlich, du Arme, deine Eltern. Ja, dann wird man erst mal bemitleidet, als ob das ein Zwang wär, dann tu ich denen Leid. Dass meine Eltern mich gezwungen haben, denken die Leute. Das ist immer dieses Vorurteil, das die meisten haben.“
Die Reaktionen? „Ja am Anfang, das war wie ’ne Bombe, weil man von allen Leuten so auf einmal gefragt wird und bemitleidet wird. Da bin ich auf einmal nur in Tränen ausgebrochen. Aber am zweiten, dritten Tag, da habe ich denen alles erklärt, warum ich das Kopftuch trage, aus religiösen Gründen, weil ich möchte, dass man auf meine inneren Werte achtet und nicht auf mein Äußeres. Und dann habe ich denen erklärt, dass ich das natürlich aus freien Stücken tue, weil ich davon überzeugt bin. Und dann war das für die Leute kein Problem. ‚Ob du jetzt ein Tuch aufhast oder nicht, solang du die Alte bleibst, ist das kein Problem.‘ “
Andere Mädchen setzen ihre neue Bedeckung gegen den Willen der Eltern durch, die wissen, wie stigmatisierend ein Kopftuch in der deutschen Gesellschaft wirkt. Eine marokkanischstämmige Studentin beschreibt, wie sie in der zwölften Klasse durch den Kontakt mit einer Moschee-Jugendgruppe zum Tuchtragen kam. Parallel habe sie lange Debatten mit dem Philosophielehrer geführt, einem Atheisten. Allah hat den Kampf in diesem Fall gewonnen: „Ich habe gemerkt, ich habe eine tolle Religion eigentlich“, resümiert sie.
Angst vor den Reaktionen der Umwelt kann diese jungen Frauen nicht mehr davon abhalten, der neu gefundenen Religion zu folgen. Es ist eher andersherum: Karakasoglu hört einige Male von Lehramtsanwärterinnen, die gerade zeigen wollen, dass auch Musliminnen mit Tuch selbstständig und emanzipiert sein können. Mit dem Tuch signalisieren sie, dass sie die Geschlechtersegregation des Islam grundsätzlich anerkennen. Frauen sind anders als Männer. Eine Muslimin geht nach dieser Vorstellung mit ihrer sexuellen Anziehungskraft verantwortlich um, wenn sie sie verhüllt.
„Das Kopftuch ist für mich ein Befehl Gottes, die Frau soll ihre Körperformen verhüllen. Ich sehe es auch als Mittel, wodurch Frauen, wenn sie mit Männern sprechen, nicht durch ihre Weiblichkeit wirken. Ihre Persönlichkeit kommt zum Vorschein, und ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum Gott das befohlen hat“, zitiert Karakasoglu eine 23-jährige Lehramtsstudentin.
Das Bedecken ihrer „weiblichen Reize“ wird als Moment der Askese gedeutet, der zeitweiligen Absage an körperliche Bedürfnisse. Der Aspekt der Geschlechterungleichheit, der dadurch entsteht, dass nur die Mädchen diesen asketischen Schritt gehen, wird zu ihren Gunsten ausgelegt: Sie haben – im Gegensatz zu den Männern – eine so starke Ausstrahlung, dass sie diese unter einem Tuch verbergen müssen. „Eine Frau, die Schleier trägt, muss respektvoll aussehen. Wie zum Beispiel in königlichen Familien“, erklärt eine. „Das ist genauso wie in alten Gesellschaften, auch hier ein Europa; ein Gentleman zu sein oder eine richtige Lady.“
Hier schimmert die uralte Bedeutung des Schleiers als Privileg der Aristokratin auf: Unter diesem Tuch steckt eine Frau, die ist so sexy, dass sie sich verbirgt. So geht sie verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität um, soll das Tuch signalisieren.
„Das Kopftuch gibt mir meine Identität wieder als muslimische Frau. Ich fühle mich darunter sehr wohl. Nicht, wie einige sagen, irgendwie eingeengt. Es steigert mein Gefühl, eine Frau zu sein, erinnert mich daran, dass ich eine Frau bin, und daran, dass ich eine Bindung an etwas habe, dass ich einen festen Bezug habe“, erklärt eine Studentin Karakasoglu. Sie verstehen das Kopftuch demnach als sichtbares Zeichen, Grundsätze des Islam verinnerlicht zu haben.
Das hat einen weiteren angenehmen Nebenaspekt. Einem traditionell eingestellten muslimischen Vater kann man leichter beibringen, dass man nun auf die Uni gehen will, wenn man ihm mittels Kopftuch zeigt, dass man die Sittlichkeit, um die er fürchtet, längst internalisiert hat. Ob eine solche Fixierung auf die Sexualität, dieses Hervorheben durch Bedecken, aus psychologischer Perspektive irgendwie geglückter oder weniger geglückt ist als die im Westen verbreitete Praxis, die Sexualität entweder zu verleugnen oder zwanghaft zu zeigen, ist eine spannende Frage.
Einen „unbefangenen“ Umgang mit dem Geschlechterunterschied üben jedenfalls noch ziemlich viele Gesellschaften. Die Neomusliminnen aber haben sich vorerst entschieden, der alten islamischen Methode der Segregation treu zu bleiben – mit einer entscheidenden Einschränkung: Sie darf ihnen keine Nachteile bereiten.
Das Kopftuch wird extra streng getragen. Aber es soll nicht die Unterordnung unter den Mann symbolisieren, sondern die unter den Glauben. Und es ist nicht der traditionelle Islam, dem die Neumusliminnen folgen. Alle Befragten hatten Jugend- oder Frauengruppen in den Moscheen besucht. Und dort haben sie die Regeln genauestens unter die Lupe genommen. Es ist eine eigene Koranlektüre, die sie ihren traditionelleren Eltern entgegenhalten. Ein echter Muslim, schließen sie daraus, würde zwar die Unterschiedlichkeit der Geschlechter anerkennen, aber niemals eine Hierarchie zwischen ihnen. So erklärt eine von ihnen der Soziologin Nökel: „Tradition und Islam sind ganz verschiedene Sachen. Im Islam ist es so: Was die Frau nicht darf, das darf der Mann auch nicht.“
Aus den Befragungen ergibt sich der Eindruck, dass eine feministische Koranlektüre unter den Musliminnen weiter verbreitet ist, als die orthodoxen männlichen Wortführer glauben machen. Letztere beherrschen allerdings die öffentlichen Diskurse und verteidigen dort wortreich die ungleichen Rechte von Männern und Frauen.
Eine in dieser Richtung aktive Frauenorganisation ist das Netzwerk „Huda“. In ihrer Zeitschrift wird nicht nur über die Rolle der Frau in der Moschee oder über Islam und Gewalt reflektiert, hier finden auch Fachleute deutliche Worte: Ein Psychotherapeut schreibt aus seiner Praxis über die Angst traditioneller Männer, die Kontrolle über ihre Frau zu verlieren, die sich in Gewalt, Eifersucht und im Einsperren äußert. Über den Masochismus muslimischer Frauen, die meinen, Allah würde ihnen ihre Duldsamkeit schon lohnen, und die vielleicht noch stolz darauf sind, dass ihr Mann so „stark“ ist. Über das Problem der Konvertitinnen, die ihren Freundeskreis durch die Konversion verloren haben und nun jede Tyrannei des Ehemanns mitmachen, aus Angst, mit ihm ihren letzten Halt zu verlieren.
Das ist anderer Stoff als der, den orthodoxe oder fundamentalistische Organisationen über „die Frau im Islam“ gerne veröffentlichen. Die Islamische Gemeinschaft Deutschlands etwa, die im Zentralrat der Muslime organisiert ist, verteidigt auf ihrer Homepage alle Vorrechte des Mannes, inklusive Polygamie. Aber auch in solchen eher fundamentalistischen Organisationen gibt es Stress: Die Frauen von Milli Görüs sollen den früheren Chef Ali Yüksel zum Rücktritt gezwungen haben, als dieser seine dritte Frau ehelichte. Feminismus findet also auch dort statt, wo man ihn am wenigsten vermutet: bei den Islamisten von Milli Görüs.
Personell verflochten mit Milli Görüs ist das Zentrum für muslimische Frauenforschung und Frauenförderung (ZIF). Sein „Hermeneutischer Arbeitskreis“ betreibt wohlgemut feministische Theologie. So würdigt er, dass Mohammed der Frau erstmals in der arabischen Geschichte den Status eines Rechtssubjekts einräumte. Doch gerade deshalb könne man die von ihm eingeführten Regeln wie das ungleiche Erbrecht oder die Polygamie nicht in die heutige Zeit übertragen.
Im Lichte der im Koran grundsätzlich vertretenen gleichen Würde von Mann und Frau müssten solche Regeln selbstverständlich der Zeit angepasst werden: Es gehe doch, etwa beim Erben, nicht um Prozentzahlen, sondern um „eine sozialverträgliche gerechte Lösung aufgrund der vorliegenden Bedingungen“, so schließen die Hermeneutikerinnen. Sie gehen so weit, dass sie den Gottesnamen Ar-rahman übersetzen als „die Gottheit ist der Mutterschoß, in dem der Mensch geborgen ist“: Allah ist eine Frau.
Nicht alle jungen Musliminnen, die nach der neuesten Mode ein Kopftuch tragen, werden sich derart weitreichende Gedanken machen. Doch für die These, diese Mädchen seien durchweg unglücklich und unterdrückt, gibt es keine Anhaltspunkte. Das Klischee nivelliert die Vielzahl der Lebensweisen muslimischer Mädchen in Deutschland, betonen alle, die sich das „unterdrückte“ türkische Mädchen genauer angesehen haben. So sind nach einer Studie von Karakasoglu dreimal so viele junge Mädchen türkischer Herkunft wie deutsche sehr zufrieden mit sich. Aber auch sehr unzufrieden sind mehr türkischstämmige als deutsche Mädchen. „Heterogen“ nennt die Soziologie diese unübersichtliche Lage: Es gibt Mädchen, die sind arm dran. Es gibt aber noch mehr, denen geht es sogar besser als den deutschen Mädchen.
Kaum zu glauben? Es wird einfacher vorstellbar, wenn man berücksichtigt, dass die traditionelle Geschlechterrollenverteilung des Islam nur aus westlicher Perspektive gänzlich negativ erscheint und abgelehnt wird. Daraus entsteht das Bild, dass die muslimische Frau todunglücklich sein muss und dementsprechend vor Freude jubelt, wenn sie endlich ihre Hüllen fallen lassen darf und das Haar im Wind flattert. Dem ist aber in vielen Fällen nicht so. Den Patriarchalismus möchten viele muslimische Frauen wohl hinter sich lassen, aber ihren Glauben und die koranischen Regeln nicht. Deshalb ist für sie weder die islamische Orientierung der Frau auf die Familie noch die Geschlechtersegregation, die durch das Tuch ausgedrückt wird, prinzipiell negativ konnotiert. Was sie dagegen entschieden ablehnen, sind die Dominanzansprüche, die altmodische muslimische Männer damit verbinden.
Viele Gegnerinnen des Kopftuchs meinen, solche Ansätze seien „naiv“. Diese Frauen seien zu schwach, um der Macht des islamischen Patriarchats zu trotzen. Man gibt eine Weile die islamische Feministin und landet dann doch in einer unglücklichen Ehe, suggerieren sie. Das könnte stimmen – wenn diese Frauen in einem homogenen Umfeld lebten, das sie mit Macht in eine traditionelle Rolle zurückdrängen will.
Aber in Deutschland leben sie in einer Gesellschaft, die sich mit wechselndem Erfolg darum bemüht, dass Frauen selbstbestimmt leben können. Ein Bekenntnis muslimischer Frauen zum Islam, der auch konservativ verstanden werden kann, ist ein geringes Risiko, wenn durch das Tragen des Kopftuchs der Frau „Exit-Optionen“ offen stehen. Also Möglichkeiten, aus einer unglücklichen Ehe oder vor uneinsichtigen Eltern zu fliehen. Und die Gelegenheit, sich zu bilden, selbst Geld zu verdienen, von Männern unabhängig zu sein.
Wer ihr Tuch diskreditiert, verbaut den Frauen diese Möglichkeiten. Wer soll private Arbeitgeber noch dazu bringen, Mädchen mit Kopftuch einzustellen, wenn schon der Staat sie für zu bedenklich hält? Es könnte gut sein, dass man damit aussperrt, was man auf der anderen Seite so vehement einfordert: Agentinnen eines moderneren, frauenfreundlichen Islam.
HEIDE OESTREICH, 35, ist Redakteurin für Geschlechter- und Gesellschaftspolitik im Inlandsressort der taz. Mit dem Thema „Kopftuch“ beschäftigt sie sich seit längerem intensiv. Jetzt hat sie ihre Recherchen in einem Buch zusammengefasst. „Der Kopftuch-Streit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam“, (200 Seiten, 15,95 Euro, Verlag Brandes und Apsel, Frankfurt 2004) erscheint in dieser Woche. Am 31. März wird es um 11 Uhr im Bundespressehaus vorgestellt