Die Lesbarkeit des Krickelkrackels

Wohl ausbalanciert: In der Schau „Soziale Kreaturen“ im Sprengel Museum Hannover beißen den Künstler die Hunde – damit der Körper Kunst wird

Die Kunst ist ein Hohlraum – und manchmal trägt sie Bockwurst

Krickelkrackel an der Wand. Große, nackige Frauenbrüste auf kleinen Fotos. Origami-Faltarbeiten, aggressives Hundegebell, Fußskulptur mit Bockwürstchen, Bewerbungsfotos eines Pornodarstellers. Wie das nun wieder alles zusammengehört?

Da muss man schon zwischen all seinem bio-, techno-, physio-, sozio- und psychologischen Wissen vernetzend hin und her denken, um dem Konzept der Kuratorinnen des Sprengel Museums bei ihrer jüngsten Themen-Ausstellung folgen zu können. Bildende Kunst, die nur mit Vorrede funktioniert.

Also: hinauf zum Überbau. Menschen definieren sich, wenn sie ihre Begrenzungen entdecken, ihren Körper. Einmal durch Kleidung sozial verortet, kann er wieder vergessen werden. Körper werden zu wesenlosen Objekten.

In unserer Gesellschaft voller Unrast sind sie angefüllt mit flexiblen Ich-AGs: ein Ergebnis von Rationalisierung, Effizienzlogik und Anpassung an das Fundamentalgesetz der Geschichte, die Ökonomie. All das befeuert nun aber wieder die Sehnsucht nach einer nicht kommerzialisierten Ich-Insel, einem Ausgangspunkt, von dem aus Existenz neu gedacht werden kann. Ich habe einen Körper, also bin ich.

Und die Kunst macht mit – getragen vom tiefen Glauben an die Authentizität des Körper-Subjekts: Da kritisieren Literaten genetische Manipulationen und kapitalistische Massenzurichtung, da pathetisiert das Theater den Körper auf Kosten des Textes. Da erklärt das Sprengel Museum: „Wie Körper Kunst wird“.

Der biografische Körper ist immer ein doppelter, real und symbolisch. Wie aus dem einen allmählich der andere wird, untersucht Pierre Bismuth im Sprengel Museum. „Following The Right Hand of Marlene Dietrich in Der blaue Engel“ betitelt ist das gigantische Krickelkrackel-Bild des Pariser Künstlers. Er hat die Handbewegungen, mit denen die Dietrich durch den Kino- Klassiker irrlichtert, auf einer Folie nachgezeichnet. Bei dieser Übersetzung divenhafter Gestik in eine grafische Struktur sollen die Körper von Dietrich und Bismuth verschmolzen sein – so will es zumindest Kuratorin Inka Schube erkannt haben.Die „Lesbarkeit“ des Krickelkrackel werde über den Mythos realisiert, „der sich an die Schauspielerin, ,Autorin‘ der Zeichnung, bindet“. Tja.

Suchen wir uns konkretere Beispiele der Kreaturenkunst. Etwa den Österreicher Erwin Wurm, der Menschenkörpern 60 Sekunden Ruhm gönnt, indem er sie als „One Minute Sculpture“ in skurrilen Posen ablichtet: mit Bockwürstchen zwischen den Zehen oder der Papprolle vom Toilettenpapier auf dem Popo.

Provokanter wirken Dokumentationen der Performances des Spaniers Santiago Sierra. In der Züricher Galerie Kilchmann heuerte er Exilanten an, die keine Arbeitserlaubnis bekommen. Während einer stundenlangen Ausstellungseröffnung mussten sie für 20 Franken einen aus Holz und Asphalt bestehenden Quader horizontal gegen eine Wand stemmen. In Helsinki animierte Sierra Obdachlose, für sieben Finnmark Stundenlohn wochenlang vier Stunden täglich in einem Erdloch zu verbringen. Kunst, die sich selbst erklärt – mit der Wahrhaftigkeit des Zynismus.

Man hat einen Körper. Manchmal ist man nur ein Körper: Grenzerfahrungen. Etwa bei der Konfrontation mit kreatürlicher Angst und Aggression. So im Video „El Gringo“. Dort bummelt Francis Alys als urbaner Intellektueller mit digitaler Videokamera in ein mexikanisches Dorf, wird von einer Horde Köter als Eindringling erkannt, attackiert, bis die Kamera zu Boden stürzt, weiterfilmt, während die Hunde schlabbernd, beißend, bellend den „Off“-Knopf nicht finden. Der belgische Künstler ist längst auf der Flucht vor dem Spiegelbild seiner animalischen Vitalität: kein zurück zum Ursprung der Körperlichkeit.

Der Deutungsmöglichkeiten sind diverse in dieser zumeist faszinierenden, immer irritierenden, nur selten in ihrer kunsttheoretischen Onanie langweilenden Ausstellung. Jede der 13 künstlerischen Positionen bearbeitet ein eigenes Unterkapitel zur gemeinsamen Überschrift „Soziale Kreaturen“. Ein wirklicher Kunstspaß des wilden Denkens: herauszufinden, worum es jeweils geht.

Pierre Bismuths Papierarbeiten zeigen die Offenheit dieses Konzepts sehr hübsch: Eigene Drucke faltet er nach Origami-Art zu Kartons. Einleuchtend: Das mache die Kunst „nützlich“, erklärt einer der amüsanten Katalogtexte, die kostenlos ausliegen. Sie „wird zum Hohlkörper, der beliebig zu füllen ist.“

Jens Fischer

Soziale Kreaturen, Sprengel-Museum Hannover, mittwochs bis sonntags 10-18, dienstags bis 20 Uhr. Bis 13.6.