: Deutschland wiedervereint – mit Tempo 200
Heute vor zehn Jahren wurde der ICE-Betrieb von und nach Berlin aufgenommen. Vier Milliarden Euro investierte die Bahn seitdem in den Verkehrsknoten Bundeshauptstadt. Eine Bilanz gelungener und verpasster Anschlüsse
Als am 22. Mai 1993 der erste ICE in den Bahnhof Lichtenberg einfuhr, gab es dort ein Bild zu sehen, das man auf deutschen Bahnhöfen nicht oft beobachten kann: Tausend begeisterte Berliner jubelten Lokführer und Passagieren zu. Ob der Zug pünktlich war, ist nicht bekannt. Gefeiert wurde damals, weil er überhaupt ankam. Schließlich war damit für die Bahn ein historischer Schritt getan, oder besser: eine historische Radumdrehung.
Nach der symbolischen Eröffnungsfahrt von Braunschweig nach Berlin wurde am nächsten Tag, also heute vor zehn Jahren, der ICE-Verkehr von und nach Berlin aufgenommen. Bis zum Juli 1993 wurden die Züge noch nach Lichtenberg umgeleitet, der Haltestelle an der Peripherie. Grund: Der Bahnhof Zoo wurde wegen Bauverzögerungen nicht früher fit für den Schnellzug. Die ersten acht ICE-Zugpaare verbanden nun Berlin mit dem Rest der Republik, die Stadt klinkte sich in das Hochgeschwindigkeitsnetz ein. Ein Tribut an das zusammenwachsende Deutschland. Allerdings: Die Hauptachsen verliefen über Frankfurt am Main, München und Stuttgart, lagen also vorerst ziemlich weit im Westen.
Immerhin drei Jahre hat es nach der Wiedervereinigung gedauert, bis auch die ehemalige und damals noch zukünftige Hauptstadt mit dem Vorzeige-Sprinter zu erreichen war. Auf den Schienen der ehemaligen Deutschen Reichsbahn konnte nur mit maximal 120 Stundenkilometern gefahren werden. Auch waren die elektrischen Netze aus Ost und West nicht miteinander verbunden – technisch und wirtschaftlich war es also unsinnig, hier ICE-Züge einzusetzen, die ihre Geschwindigkeit gar nicht ausfahren konnten.
Es folgte das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“, bei dem insgesamt 2.300 Gleiskilometer modernisiert oder neu installiert wurden. Allein nach Berlin flossen in den letzten zehn Jahren rund vier Milliarden Euro, mit denen alle Bahnen der Stadt saniert oder ausgebaut wurden. Stichwort Pilzkonzept: In Form des teils giftigen Gewächses wuchern heute fünf Haltestellen für den ICE auf der Berlin-Karte, nämlich Zoologischer Garten, Ostbahnhof, Spandau, Schönefeld-Flughafen und Wannsee. Drei weitere Haltepunkte werden gerade ausgebaut: Lehrter Bahnhof, Papestraße und Gesundbrunnen. 44 ICE-Zugpaare steuern heute täglich Berlin an.
Und es wird weiter ausgebaut: Erfolgreich war die Bahn auf der Strecke Berlin–Hannover. Mit Tempo 250 erreichen die Reisenden in 90 Minuten ihr Ziel. Ende der 80er-Jahre dauerte dieselbe Fahrt mit dem Interzonenzug vier Stunden und 12 Minuten – 30 Minuten länger sogar als im Jahr 1914.
Berlin–Hamburg allerdings ist noch ausbaufähig: Heute erreicht der ICE hier nur 160 Stundenkilometer, Ziel sind aber 230. Bis 2005 soll auch hier die kurze Metropolenverbindung stehen, in 90 Minuten von der Spree an die Alster. Eine Verspätung, die sich durch die Transrapid-Pläne für diese Route erklärt. Auch nach Osten will die Bahn künftig schneller fahren, auf den Routen nach Rostock, Stralsund und Leipzig. Ab 2006 soll Frankfurt (Oder) in 36 Minuten zu erreichen sein und die Vision der Bahn von Berlin als Eisenbahnkreuz im Osten reale Gestalt annehmen. Bis 2012 soll dann auch die ICE-Strecke Berlin–München stehen, die 1999 kurzfristig von der Bundesregierung gestoppt worden war. SIMONE ROSSKAMP