Die eine oder andere Träne

Cannes Cannes (IX): Claudia Cardinale schaut sich „Otto e mezzo“ an. Ein wenig von der Leichtigkeit und Unerschrockenheit, mit der Fellini besticht, wünschte man doch manchem Wettbewerbsfilm

So wie die Figuren vagabundieren, so vagabundiert auch die Erzählung

von CRISTINA NORD

„Heute Abend, während ich ‚Otto e mezzo‘ wiedersehe, werde ich die eine oder andere Träne weinen.“ Claudia Cardinale trägt ein rotes Kleid, auf dem Blumen ranken. Auf der kleinen Bühne vor der Leinwand geht sie auf und ab, weniger aus Nervosität, sondern weil sie so das Publikum in der Salle Buñuel besser adressieren kann. Als sie Platz nimmt in der zweiten Reihe, wendet sich der Leiter der Retrospektive den staunenden Zuschauern zu: „Ja, Sie werden einen Film sehen und dabei direkt hinter Claudia Cardinale sitzen.“

Ein schöner Augenblick ist das, aber gerne wüsste man mehr. Wie ist es, wenn seit der ersten Aufführung eines Filmes 40 Jahre verstrichen sind und die Darstellerin sich selbst als jungen Menschen auf der Leinwand sieht? Sieht Claudia Cardinale sich selbst oder sieht sie die Figur, die sie 1963 spielte? Vielleicht lässt sich das eine vom anderen nicht trennen, zumal in einem Film wie „Otto e mezzo“, der sich selbst zum Gegenstand macht und daher die von Claudia Cardinale gespielte Figur Claudia nennt. Cardinales Präsenz im Saal ruft etwas wach, was zu den Grunderfahrungen des frühen Kinos gehört: das Erstaunen darüber, dass die Schatten des Films Menschen jung und am Leben erhalten, indem sie die Zeit anhalten. Weil dabei immer die Gefahr von Erstarrung im Spiel ist, handelt es sich um eine zweischneidige Fähigkeit des Mediums.

An „Otto e mezzo“ ist natürlich nichts starr: weder Mastroiannis Figur des rast- und ratlosen Regisseurs Guido Anselmi noch Claudia Cardinale als dessen Muse noch die wunderbare Eddra Gale als Saraghina, die im Brachland zwischen Strand und Vorstadt die Rumba tanzt. Ein wenig von dem, was an Fellinis Filmen besticht – die Unerschrockenheit, der Aberwitz, die Leichtigkeit bei gleichzeitiger Tiefe –, wünschte man manchem Wettbewerbsfilm. Denys Arcands oberflächlichem „Les invasions barbares“ zum Beispiel. Welchen Sinn hat es, vom Sterben zu erzählen, wenn der Regisseur nicht die Spur eines Risikos eingeht? Nichts erfährt man von der Angst und von der Bitternis, die einen Todkranken befallen, nichts vom Schmerz der Angehörigen. Denn all das vergisst „Les invasions barbares“ über den pointenreichen Dialogen, gepflegten Anzüglichkeiten und der Großherzigkeit ausnahmslos aller Figuren. Und nach der Stringenz der Kommentare zur Lage der Welt nach dem 11. September 2001 fragt man sich vergeblich. Dazu könnte der Film als Werbung für Sterbehilfe durchgehen: Arcand macht den Abschied leicht.

Wenn der Wettbewerb erlahmt, bleiben die Nebenreihen. La Quinzaine des Réalisateurs präsentiert einen iranischen Film, „Deep Breath“. Und siehe da: Anders als Samira Makhmalbaf mit „Panj é asr“ glauben machte, gibt es ein iranisches Kino, das in der Großstadt spielt, auf Didaktik verzichtet und sich auf seine eigene Modernität verlässt. Mit „Ten“ hat Abbas Kiarostami vor einem Jahr ein Beispiel für dieses Kinos nach Cannes gebracht, und in diesem ist die Reihe an dem 1962 geborenen Parviz Shabazi. „Deep Breath“ begleitet drei junge Menschen, zwei Männer und eine Frau, bei ihren Wegen durch Teheran. Da die meisten iranischen Filme, die man außerhalb des Landes zu Gesicht bekommt, von unfreien Figuren handeln, überrascht es, wie ungebunden die Protagonisten von „Deep Breath“ sind. So wie die Figuren vagabundieren, so vagabundiert auch die Erzählung. Mit einem geklauten Wagen fahren sie durch die Stadt, manchmal machen sie etwas kaputt, wovon sie meinen, dass es sie selbst kaputt mache, immer suchen sie Räume, die offen für sie sind: Pensionen, einen Stausee außerhalb Teherans, einen Aussichtspunkt am Rand der Stadt. Nicht allzu viele davon gibt es, gerade für Ayda (Maryam Palyzban) nicht, die junge Frau. „Deep Breath“ schildert das en passant, anstatt es explizit zu benennen. Sehr schön ist die Szene, in der Mansour (Mansour Shahbazi) zu weit auf der linken Fahrspur fährt und von der Polizei gestoppt wird. Man meint, gleich fliege der Autodiebstahl auf, doch stattdessen mahnt der Polizist: „Junger Mann, sind wir hier in England?“ Er wiederholt die Frage so oft, bis er von Mansour ein Schuldeingeständnis bekommt. Dass Ordnungshüter belehren, bevor sie über das Vergehen hinwegsehen, scheint eine universelle Erfahrung zu sein.