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Archiv-Artikel

Kein Wunder, dass hier plötzlich alle Amok laufen

Wie entfremdet wir doch sind: Falk Richter nervt an der Schaubühne mit erhobenem Zeigefinger und Teil 3 seiner Werkstattreihe „System 1–4“

Das Geraune vom Tod des Subjekts, vom Ende der Wirklichkeit bleibt jede Erklärung schuldig

Alles könnte so schön sein. So schön wie das blonde Mädchen, das als multimediale Mona Lisa überlebensgroß aus einem silbern gerahmten Bildschirm lächelt. Im Einkaufszentrum gibt es alle wichtigen Marken zu kaufen, und trotzdem ist jemand in die Schule eingedrungen und hat Lehrer und Kinder erschossen. Das Mädchen vom Bildschirm lächelt. Die Bühnenbild (Jan Pappelbaum) sieht nach Lounge oder großzügigem Wohnzimmer aus. Schick gepolsterte Bänke im Halbrund, alles in diskretem Beige. Dazwischen fünf Menschen und ein Barwagen mit Monitor.

Stück für Stück erzählen sie sich die Horrorgeschichte: als wollten sie diesen monströsen Vorgang, der ihre Wohlstandswelt traf, durchs Erzählen begreifen. Doch je genauer sie über Einzelheiten des Massakers reden, desto ferner werden sie sich dabei. Am Ende wirken die herangezoomten Details so irreal wie das Dauerlächeln des Mädchens. Der Zuschauer realisiert, dass es gar nicht um das Massaker selbst, sondern um die Probe eines Theaterstücks geht, in dem ein Schulmassaker verhandelt wird. Dass die ganze Konzentration lediglich auf die Herstellung einer Fiktion gerichtet ist.

Wir befinden uns in der Schaubühne, genauer gesagt in Teil drei von Falk Richters Werkstattreihe „System 1–4“, die versuchen will, „unsere Art zu leben“ besser zu verstehen. Heute steht das beliebte Phänomen Amoklauf auf dem Programm, die Grundaufmerksamkeit ist also gesichert. Angesichts der Pauschalformulierung „unsere Art zu leben“, drängt sich jedoch die Frage auf, um was für ein „wir“ es sich da eigentlich handelt, dessen Art zu leben da besser verstanden werden soll.

Handelt es sich um eine Selbstauskunft von Schaubühnenmitarbeitern? Sollen sich alle gemeint fühlen, die in einer westlichen Gesellschaft leben, und dort mit Meldungen wie Schulamokläufern und ähnlichen Gewaltausbrüchen konfrontiert werden? Oder will Richter am Ende bloß verstehen, wie Amokläufer leben? Angesichts des Potpourris von Theaterszenen und Videoprojektionen, aus denen der gut einstündige Abend zusammengesetzt ist, ist auch diese Variante nicht völlig auszuschließen.

Im Verlauf des Abends entsteht ein Weltbild, das Gewaltausbrüche als letztes Moment von Wirklichkeit in einer medial entfremdeten Welt begreift. Über allem sieht man ständig Falk Richters erhobenen Zeigefinger schweben: „Seht, so schlimm entfremdet ist das alles. Kein Wunder, wenn hier plötzlich Schüsse fallen oder Flugzeuge in Wolkenkratzer gesteuert werden!“ Als Grundlage dienen ihm fünf kurze Texte des britischen Dramatikers Martin Crimp, von denen zwei an diesem Abend ihre deutsche Erstaufführung erleben. Auch Crimp raunt gern vom Tod des Subjekts und dem Verschwinden der Wirklichkeit und bleibt dabei jede weitere Erklärung schuldig.

Auf eine Art ist dieser Theaterabend selbst Symptom des Problems, das er zu beschreiben versucht: Wer das richtige Leben nicht mehr fühlen kann, läuft Amok. Oder er macht Theater über den Amok als Diskurs. Eines ist so unerfreulich wie das andere. ESTHER SLEVOGT