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Archiv-Artikel

Wenn der Doktor kommt

Gemeinsam mit tausend anderen ein Pfund Altkanzler davontragen. Wer aber ist V Xun?

„Persönliche Widmungen gibt es nur für Kinder“, sagt eine resolute Referentin

An die tausend Menschen stehen Schlange vor McDonald’s im Leipziger Hauptbahnhof am Buchmesseneröffnungsdonnerstag 2004. Doch der Eindruck, hier sei ein Massenselbstmord geplant, täuscht. Die Menschen stehen nicht an für Bratfettverdunstung, sondern für Manna: Direkt neben der Filiale der Frittenfettler liegt die Buchhandlung, in der Helmut Kohl, genannt „Doktor Helmut Kohl“, zur Signierstunde avisiert ist. Ehrfurcht brandet dem 73-Jährigen entgegen, als er pünktlich um 16 Uhr eintrifft. Ein Raunen geht durch den Bahnhof; der große, wuchtige Mann erfährt fast religiöse Verehrung – sein Doktorgrad ist spürbar mit spirituellem Gehalt aufgeladen: Die Menschen pilgern zu Kohl, als sei er ein Medicus, ein Wunderheiler, der Wunden heilt. Seelische Wunden sind es, die Wunden der herrlichen Einheit – die ER, der Messias in dick, den Deutschen gebracht hat. So will es die Legende, und so wollen es viele Deutsche für immer im Schatzkästlein ihrer Erinnerung ablegen.

Selige Dankbarkeit entströmt den Wartenden – schon dafür, dass Helmut Kohl nicht Gerhard Schröder ist, lieben sie ihn. Der Name Helmut Kohl steht für die gute alte Zeit, bevor der Sozialstaat komplett abgeräumt wurde – das besorgt nach ihm die Sozialdemokratie. Bei Kohl gab es große Geschenke für die Großen und kleine Geschenke für die Kleinen; Korruption wird als Teil der menschlichen Natur und deshalb als angenehm empfunden. Vergessen sind die Affären, die Peinlichkeiten, die Schwarzgeldkonten. Kohls mafiöses Gebaren hat ihm nicht geschadet, sondern nur genützt. Die Menschen mögen Kriminalität zugunsten der eigenen Familie, das hat so etwas Warmes, Menschliches, Versorgendes.

Nicht nur richtige Menschen, auch Journalisten gehen gern im sicheren Hafen Helmut Kohl vor Anker und fühlen sich wohl in ihm. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher schwärmt: „ ‚Der Platz, an dem ich schreibe‘ heißt eine schöne Skizze von Arno Schmidt, und der Platz, an dem man schreibt, ist seit Dürers Kupferstich ‚Der heilige Hieronymus im Gehäus‘ von 1514 ein Ort größter symbolischer Verdichtung. … Der Platz, an dem Helmut Kohl seine Erinnerungen schrieb, befindet sich im Keller seines Hauses in Oggersheim.“ Arno Schmidt – Albrecht Dürer – Helmut Kohl: drei deutsche Säulen. Doch Schirrmacher untertreibt noch: Der Tag, an dem Helmut Kohl den Deutschen seine Erinnerungen schenkte, ist angemessen nur vergleichbar dem Moment, da Gott der Herr Moses die Zehn Gebote in die Hand drückte.

Die allerdings den Vorteil haben, schön kurz zu sein – Kohls Buch, ein pfundschweres Trumm von 700 Seiten, lässt sich nicht so leicht auswendig lernen. „Erinnerungen 1930–1982“ heißt es – Helmut Kohls Elefantengedächtnis ist das erste, das bis zur Stunde seiner Geburt zurückreicht. Auch das kann nur der Doktor, der Doktor Helmut Kohl. Und deswegen ist das Buch, das ich nach nur 25 Minuten Anstehen endlich erwerbe, mit einem Preis von 28 Euro eindeutig zu billig. So ein Gewaltwerk muss mehr kosten – räumt es doch, so sagt es Doktor Kohl selbst, endlich auf mit den „politischen Klischees“ und den „Legenden über die historischen Zusammenhänge“, die „bereits zu verdrängen drohen, wie es wirklich war“.

Wie aber war es wirklich, also, wie man so sagt, hinter den Kulissen? Auch nicht anders als davor? „Wichtig war für mich vor allem, geistig auf dem Boden der Heimat zu stehen“, schreibt Doktor Kohl. Das ist ihm zweifellos gelungen, und so kann er auch als Historiker nicht ohne Stolz Bilanz ziehen: „Das Dritte Reich dauerte mit zwölf Jahren deutlich kürzer als meine eigene Kanzlerschaft, um nur die zeitliche Dimension einmal zu vergleichen.“

Doch das lese ich erst später – vorher trage ich dem Altkanzler mein Exemplar entgegen, dringe aber nicht in seine Aura vor: Ein Kordon von zwölf Sicherheitsmännern schirmt den Giganten ab, drei bis vier Meter vor dem Kanzler der Einheit ist Schluss. Mein Buch wird mir entrungen, zu ihm getragen, dann bekomme ich es wiedergebracht, versehen mit einer Signatur, die aussieht wie zwei Steno-Schnipsel, die V Xun heißen könnten. Das ist alles – „persönliche Widmungen gibt es nur für Kinder“, sagt eine resolute Referentin. Helmut Kohl sitzt am Tisch und signiert wie am Fließband, V Xun, V Xun. Die Zunge rutscht ihm zwischen die Lippen, es sieht nicht vorteilhaft aus und gar nicht intelligent. Es macht nichts – Helmut Kohl kann nichts mehr etwas anhaben. „Bitte weitergehen“, fährt mich ein Securityscherge in strengem Ton an. Ich weiche, mein Pfund Kohl davontragend.

Auf der Straße bekomme ich von einer jungen Frau eine Einladung zu einem „City-Gottesdienst“ – die Christen werden auch immer gewollt moderner und versuchen, wie das heute heißt, die Synergieeffekte zu nutzen: Auf das Flugblatt ist ein Christusfoto aus Mel Gibsons Bluter-Epos „The Passion of The Christ“ gedruckt. Zu einem „City-Gottesdienst“ würde ich niemals gehen, da bin ich konservativ, und einen richtigen Gottesdienst hatte ich schon – bei Doktor Helmut Kohl, der mit Glauben und Logik schreibt: „Ich bin zeitlebens gern in die Kirche gegangen, weil ich oft das Bedürfnis danach hatte.“ Und ganz sicher sehr bald selig gesprochen wird. WIGLAF DROSTE