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Archiv-Artikel

Baby-Blues: Die Krise nach der Geburt

Nach den ersten Glücksmomenten mit dem neugeborenen Kind fallen viele Eltern in ein tiefes Loch. Die glücklichsten Menschen der Welt sind plötzlich traurig, ohne zu wissen, warum. Ob „Baby-Blues“ oder postpartale Depression: bloß nicht darin verkriechen, sondern das Gespräch suchen

„Viele denken, mit ihnen stimme was nicht und werden dadurch depressiv.“

taz ■ Da liegt das kleine Wunder, das neun Monate lang sein Kommen angekündigt hat, endlich ist es da, gesund und so munter wie ein Säugling sein kann. Und alle denken – eingeschlossen die frischgebackenen Eltern selbst – jetzt müsse man die glücklichste Frau oder der glücklichste Mann auf der Welt sein. Doch der glücklichste Mensch der Welt liegt auf dem Bett und heult sich die Augen aus dem Kopf und ist traurig und erschöpft und weiß überhaupt nicht mehr, was los ist.

„Baby-Blues“ heißt das Phänomen, das in der Regel in den ersten zehn Tagen nach der Geburt auftritt. „Das ist eine ganz normale Durchgangsphase, die fast alle erleben“, sagt die Hebamme und Psychologin Kristin Adamaszek. „Wenn das große Ereignis vorüber ist, fallen viele in ein Loch – ganz ähnlich wie nach einer bestandenen Prüfung, auf die man sich wochenlang vorbereitet hat und die der Lebensinhalt war.“

Das vorübergehende Stimmungstief kann neben häufigem Weinen und einer scheinbar grundlosen Traurigkeit auch zu Stimmungsschwankungen, Erschöpfungsgefühlen, Schlaf- und Ruhelosigkeit, sowie Ängstlichkeit und Konzentrationsschwierigkeiten führen. Symptome, die aber nicht nur für Frauen reserviert sind, deren Hormonhaushalt sich nach der Geburt radikal verändert. „Ich habe auch schon Väter erlebt, die nach der Geburt vor dem großen Fragezeichen stehen“, sagt die Hebamme, die Frauen und Männer in solchen Situationen berät.

Wichtig sei in dieser Phase, sich die Traurigkeit einzugestehen und sich nicht von dem Anspruch verrückt machen zu lassen, die perfekte Mutter oder der perfekte Vater zu sein. „Viele denken dann, etwas sei mit ihnen verkehrt, und dadurch werden sie möglicherweise noch depressiver.“ Die Gefahr: Aus dem Baby-Blues entwickelt sich eine postpartale (auch „Wochenbett-“) Depression, aus der manche Frau – oder auch mancher Mann – nicht mehr so leicht ohne professionelle Hilfe herausfindet. Zehn Prozent aller Mütter seien davon betroffen, sagt Adamaszek. In sehr seltenen Fällen komme es sogar zu einer Psychose. Der Verlauf des Kranheitsbildes hänge davon ab, wie stabil jemand ist oder ob es eine erbliche Veranlagung zu Depressionen gibt. Aber: „Das kann jeden treffen.“

Die Symptome treten in der Regel im ersten Jahr nach der Geburt auf und ähneln denen des Baby-Blues. „Die Übergänge sind fließend“, sagt Adamaszek. Viele merken aber erst, was mit ihnen los ist, wenn noch schwerere Störungen dazu kommen wie Schuldgefühle, ein inneres Leeregefühl, sexuelle Unlust, Panikattacken und sogar Suizidgedanken und ambivalente Gefühle dem Kind gegenüber bis hin zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Herzbeschwerden. Nicht immer sei die Depression aber so stark, dass eine Behandlung mit Medikamenten oder sogar ein Klinikaufenthalt notwendig wird. In jedem Fall sei es wichtig, die Gefühle ernst zu nehmen und darüber zu reden. Professionelle Hilfe bieten Hebammen, ÄrztInnen oder Beratungsstellen. „Man muss sich davon befreien, alles perfekt machen zu wollen und alleine zu schaffen.“ Die postpartale Depression habe viel damit zu tun, dass Mütter in unserer Kultur so viel mit dem Kind alleine gelassen werden. „Ein großes Problem ist die Einsamkeit“, sagt die Hebamme, die fünf Jahre im Jemen gearbeitet und dort kennengelernt hat, wie die Frauen nach der Geburt aufgefangen werden. 40 Tage Schonfrist schreibe der Koran vor: „Die werden rund um die Uhr versorgt – aus gutem Grund wahrscheinlich.“

„Das ist wie nach einer Prüfung, auf die man sich wochenlang vorbereitet hat.“

Und noch etwas sei anders in der islamischen Kultur: Die Geburt eines Kindes – vor allem eines Sohnes – bedeute einen gesellschaftlichen Aufstieg der Frau. „Je älter und je mehr Kinder, desto besser“, so Adamaszek. Bei uns sei gerade der Übergang in die nächste Generation, das Älterwerden, negativ besetzt. „Eine ältere Frau ist nicht so angesehen.“ Ein Grund zum Heulen.

Eiken Bruhn

Hilfe und Informationen: 66 077 33 (Claudia Schmücker). Infos: www.schatten-und-licht.de