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Archiv-Artikel

Berühmter als der Kölner Dom

Für Japaner ist das Friedensdorf Oberhausen eine Attraktion auf ihren Europareisen. Populär wurde das Kinderhilfs-Camp durch eine Fernsehshow

Sie wollen mit eigenen Augen sehen, was sie vor zwei Jahren im japanischen Fernsehen gesehen habenAn der Wand abgenutzte Prothesen, getragen von Kindern aus Haiti, Angola, Afghanistan und Vietnam

AUS OBERHAUSEN MERJAM WAKILI

In verblichenem Neongelb steht ein Wort am oberen Bildschirmrand. „Problem“ hat da jemand hingeschrieben und drei Fragezeichen drangehängt. Das Wort existiert nicht in der Muttersprache derjenigen, die es dort hingeschrieben hat. Chizuru Azuma ist Japanerin aus Hiroshima. Sie ist ein Star in ihrer Heimat, bekannt wie hierzulande Thomas Gottschalk. Chizuru hat das Wort bei einer Stippvisite in Dinslaken an Wolfgang Mertens Bildschirm geschrieben, weil sie froh ist, dass es das Wort auf Deutsch gibt. Ein Wort, das ausdrückt, was es zu lösen gilt: Problem. Jetzt ist sie wieder in ihrer Heimat und dreht Fernsehserien, lässt sich fotografieren für Kataloge, gibt Interviews zu Dinslaken und den Problemen, die am Niederrhein zu lösen versucht werden.

Im Dinslakener Gewerbegebiet liegt das Büro des Friedensdorf International, dort hängen Bilder von Chi, wie Mertens sie nennt. Er arbeitet für eine Organisation, die seit 37 Jahren Kinder aus Krisen- und Kriegsgebieten nach Europa holt, um sie in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden medizinisch zu behandeln. Mertens ist Sprecher des Friedensdorfs. Er kennt das Wort „Problem“ sehr gut, benutzt es häufig, wenn er über die verletzten Kinder aus Afghanistan, Angola oder Vietnam spricht oder friedenspädagogische Vorträge vor Besuchergruppen hält. Dann drückt er seine große Brille mit dem schwarzen Plastikrand auf der Nase nach hinten und streicht die blonden Haare nach vorne. Mertens weiß, dass es für das Wort „Problem“ nur Umschreibungen gibt, wenn er Japanern die Situation der Kinder schildern will, und das kommt oft vor.

In Japan sind die Städte Dinslaken und Oberhausen mit dem Friedensdorf so bekannt wie Köln mit seinem Dom oder München mit seinen Lederhosen. Angefangen hat die Popularität des Friedensdorfs mit einer Fernseh-Show. Eine deutsche Journalistin aus Mainz, die japanische Fernseh-Teams in Deutschland betreut, hatte einen Beitrag über das Friedensdorf vorgeschlagen. Das wenig beliebte staatliche Fernsehen zeigt einen Beitrag, den nicht besonders viele Zuschauer beachtet haben: Ein Origami-Meister mit Papier im Gepäck machte sich auf die Reise nach Deutschland, um mit den verletzten Kindern in Oberhausen zu falten. Der Durchbruch kam erst 1999 als Chizuru, der Star aus Hiroshima, für einen japanischen Privatsender nach Oberhausen reiste, für eine Show, die Einschaltquoten von knapp 50 Prozent erreicht: „Die Show Ururun kennt jeder in Japan“, sagt Yuka. Sie ist 26 Jahre alt und schon lange genug in Deutschland, um das Wort Problem zu kennen. Sie arbeitet im Friedensdorf zusammen mit Michiko in der japanischen Abteilung.

Michiko und Yuka lächeln, auch wenn sie über Probleme sprechen. Sie wissen genau, wie sie ihren Landsleuten erklären, warum das Mädchen aus Afghanistan ein verstümmeltes Bein oder der Junge aus Angola ein verbranntes Gesicht hat. Sie sprechen über die Minen am Hindukusch und Kindersoldaten in Afrika, ohne das Schicksal Einzelner in den Vordergrund zu heben. Zwei bis drei Mal in der Woche umschreiben Yuka und Michiko ihren Landsleuten, die Arbeit des Friedensdorfs, vorsichtig, jede Formulierung bedacht, um die Gäste nicht vor den Kopf zu stoßen. Fast alle, die es an den Niederrhein verschlägt, haben „Ururun“ gesehen, die wöchentliche Fernsehsendung, in der eine prominente Person für eine Woche an einen fremden Ort fährt, um dort bestimmte Aufgaben zu lösen oder Fähigkeiten zu erlernen. Chizuru hat sich vor fünf Jahren für das fremde Oberhausen entschieden, weil sie verletzte Kinder pflegen wollte. Seitdem ist sie japanische Patin für das Dorf. Nach vier Fortsetzungs-Drehs der Ururun-Show in Oberhausen kennen viele Japaner das Friedensdorf, sehr viele.

„Studentengruppen, Familien, junge Menschen, alte Menschen. Alle kommen zu uns, weil sie sehen wollen, wie die Deutschen helfen.“ Yuka lächelt. Sie ist selbst durch die Fernseh-Show mit der berühmten Chizuru auf das Friedensdorf aufmerksam geworden. Im Internet hat sie weitergesucht und sich um ein Praktikum in Deutschland beworben. Bei Michiko war es genauso. Auf ihre Karriere als Bankangestellte in Osaka und umgerechnet 40.000 Euro Bruttogehalt im Jahr hat sie verzichtet, um für das mickrig bezahlte Praktikum nach Oberhausen zu kommen. Manchmal, sagt sie, denke sie schon darüber nach, was sie zurückgelassen habe, aber von Reue möchte sie nicht sprechen. „Geldverdienen kann ich ja immer noch. Irgendwann.“ Michiko schaut Yuka an. Beide nicken.

„Bei uns denkt man nicht viel über die eigene Vergangenheit nach“, sagt Michiko. Der Geschichtsunterricht endet da, wo der Zweite Weltkrieg beginnt. Japaner fühlen sich nicht so sehr verantwortlich für Menschen, die an Krieg und Elend leiden, sagt Mertens: „Die haben einfach ‘ne andere Mentalität.“ Vielleicht sei dies der Grund dafür, dass so viele Japaner nach Oberhausen pilgern, um zu sehen, wie man versucht, Probleme zu lösen. Vielleicht wollte Chizuru aus Hiroshima das Wort Problem ins Bewusstsein ihrer Fans rücken. Yuka sagt: „Ich glaube, in Hiroshima lernt man mehr über Frieden und die Probleme in der Welt.“ Mehr als in Osaka, wo sie herkommt oder Tokio, wo ihre Gäste herkommen. An diesem Tag begleitet Yuka eine Mutter mit ihrer zwölfjährigen Tochter durch das Friedensdorf. Mit einer tiefen Verbeugung begrüßen sie sich: „Konitschiwa“, sagt auch Mertens, zieht das A lang bis es in ein Lachen übergeht, reicht der Mutter die Hand und verbeugt sich. Die Gäste sind gestern aus Tokio angereist und sehen noch etwas müde aus. Mehrere Stadtpläne lugen aus der Handtasche der Mutter. In den nächsten Tagen werden die beiden wohl immer noch müde aussehen. Oberhausen ist die erste Station der Deutschlandreise. Vom Friedensdorf haben sie im Fernsehen gehört. „Ururun“ sagt die Mutter, für sie ein selbsterklärender Begriff. Sie lächelt und nickt mehrmals mit dem Kopf. Zu Yuka sagt sie, sie will jetzt endlich mit eigenen Augen sehen, was sie vor zwei Jahren im japanischen Fernsehen gesehen hat. Yuka reicht ihr und der Tochter eine Faltbroschüre über das Friedensdorf in japanischer Schrift. Tausende solcher Broschüren und Infoblätter haben sie und Michiko an Interessenten nach Japan geschickt. Mit dem Krieg in Afghanistan hat auch die Zahl der Fernseh-Beiträge in Japan über das Friedensdorf zugenommen. Reisebüros in Asien bieten Friedensreisen nach Europa an, die Reise beginnt in Warschau und endet in Oberhausen im Friedensdorf.

Yuka erklärt der Mutter und ihrer Tochter, warum einige der Bungalows im Friedensdorf so heruntergekommen aussehen. Sie sind aus den Sechziger Jahren. Seitdem kamen nie genug Spenden zusammen für Renovierungen. Sie deutet mit dem Finger auf den Neubau und die Baustelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Da können die Kinder demnächst wohnen, solange, bis ihre Wunden verheilt sind und sie wieder in ihre Heimatländer zurückkehren können. Die Waschküche werde auch erneuert: Miele Japan hat Waschmaschinen und Trockner gespendet.

Kinderstimmen wehen herüber. Da will die zwölfjährige Tochter hin, gucken, wie Kinder spielen, wenn sie weit weg von zu Hause und Eltern sind, gucken, wie Fußball geht, wenn der Unterschenkel amputiert ist. Die Mutter rollt die Augen nach oben, blinzelt mehrmals, so als versuche sie die Tränen wieder dort hin zu drängen, wo sie herkommen. Bei ihrer Tochter landen sie im Taschentuch. Sie gehen in einen der Bungalows, wo Kinder mit ihren verletzten Händen malen und basteln– eine Art Therapie, um die Hände und Finger beweglich zu halten. An der Wand hängen Fotos mit lachenden Kindern, Zeichnungen und alte, abgenutzte Prothesen, gemacht für Kinderbeine, Kinderarme, Kinderhüften, getragen von Kindern aus Haiti, Angola, Afghanistan, Vietnam. Zu jeder Prothese gibt es ein Schicksal, eine Geschichte. Yuka erzählt sie nicht, sagt nur kurz, dass das Prothesen sind und warum sie dort hängen und beantwortet die Frage der besorgten Mutter, ob die Kinder denn auch fegen und saubermachen müssten. Sie hat ein Foto entdeckt, auf dem ein Junge einen Besen in der Hand hält. Ja, sagt Yuka, in ihren eigenen Räume helfen sie mit beim Saubermachen, damit sie Verantwortung lernen. „Ai“, die Mutter nickt, wirkt zufrieden mit Yukas Antwort.

Ein Junge aus dem Bastelraum will wissen, wer da zu Besuch ist. Er grüßt Yuka, die er kennt und deutet auf einen chinesischen Schriftzug auf seiner schwarzen Jogginghose. Hay ist 13 und aus Vietnam, an seiner rechten Hand trägt er eine Schiene. Die Mutter soll vorlesen, was auf seiner Hose steht. „Schönes Land“ entziffert sie und streicht dem Jungen über den Kopf. Stimmt, sagt die Mutter als sie wieder rausgehen, Deutschland ist ein schönes Land. Und dann wird sie ernst: Was können wir als Japaner denn tun für das Friedensdorf?

Yuka muss etwas überlegen, was sie ihr antwortet. Sie schaut kurz auf die Spenden-Überweisung, die dem Info-Faltblatt über das Friedensdorf beigelegt ist. Über Geld zu sprechen, ist ein Tabubruch unter Japanern. Sie überlegt einen Augenblick und ballt ihre zierliche Hand zu einer Faust, die sie auf ihre Brust legt. Dann sagt sie so etwas wie: an die Kinder denken sei gut und vom Projekt Friedensdorf ganz vielen Freunde und Bekannten in Japan erzählen sei auch gut. Dann kommt ein afghanischer Junge zu Yuka. Sein linkes Bein ist kürzer als das rechte, deswegen hinkt er. Seine Finger sind Stummel, deswegen bekommt er den Reißverschluss von seiner Jacke nicht zu. Er stupst Yuka an und fragt: „Meine Jacke anzieh‘n. Kannst du helfen?“ Yuka lächelt. „Kein Problem.“