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Archiv-Artikel

Auf den Wellenlinien der Stunden

Zeit, festgehalten in Zeichen: Die Hannoveraner Kestner-Gesellschaft und die Hamburger Phoenix-Fabrikhallen zeigen Werke von Hanne Darboven

„Arbeit, Pflichterfüllung“: Darboven startet täglich um 4 Uhr morgens mit der Kunst

1 + 1 + 0 +0 = 2. Stimmt. 1 + 1 + 9 + 9 = 20. Klar. Ganz klein stehen diese Rechenaufgaben, ganz groß aber prangt das Ergebnis „2/20“ auf einem Bogen Papier. Es folgen 420 weitere Bögen, die Hanne Darboven auf ein Dutzend Karopapier-Quadrate geklebt hat. Pedantisch wird fortlaufend nummeriert: „3/21“, „4/22“. Bis schließlich auf dem letzten Bogen, der auf dem 12. Karo-Plakat klebt, zu lesen ist: 31 + 12 + 0 + 0 = 43 und 31 + 12 + 9 + 9 = 61, also „43/61“. Das ist schon ein Drittel der Arbeit „Ein Jahrhundert-ABC“, nach dem die Kestner Gesellschaft in Hannover ihre jüngste Ausstellung betitelt hat. Ein Jahrhundert-ABC mit einem winzigen Ausraster in der „mathematischen Prosa“ (Darboven), da beim Ereignis „31/49“ die Addition durcheinander gerät und stattdessen „31/46“ notiert ist. Schon das eine Sensation im gestrengen Werk der ansonsten rigorosen Lakonikerin.

Hanne Darboven wurde 1941 in München geboren, entdeckte durch die Freundschaft zu Minimal- und Concept-Art-Künstlern wie Sol LeWitt ihre Vorliebe für Serielles und fand einen eigenwilligen Weg in der Komposition endloser Zahlenkolonnen, Wellenlinien und Tagebuchnotizen. Dahinter vermutet der Betrachter schnell ein System. Ein solches Suchspiel nach Art von Intelligenztest-Fragen ist der einzige Spaß, den diese anti-emotionale, unsinnliche Kunst gönnt – wenn nicht viele der ABC-Tafeln einfach zu hoch hängen würden, um sie „lesen“ zu können.

Für den zweiten Teil des ABC muss der Blick in den Katalog helfen. Darboven hat auf Karopapier die Quadrate gerändert. Ein Mal zeichnet sie die Umrisse von zwei Karos nach, zwei Mal die Umrisse von drei Karos, drei Mal … alles klar! Bis sich die zwei aufsteigenden Zahlenreihen in eine auf- und eine absteigende aufteilen: 19 Blätter später malt Darboven drei Mal 59, zwei Mal 60, ein Mal 61 Karos die Begrenzungen schwarz an. Das ist alles. Und hat man das herausgefunden, beginnt die Monotonie der formalen Konsequenz zu langweilen.

Die Darboven‘schen Zahlen verweisen auf keine andere Realität jenseits ihrer Konstruktionsformel, sollen dafür zur Reflexion über den Charakter abstrakter Systeme anhalten. Das Material, aus dem geschöpft wird, ist die Zeit: Darbovens systematische Reihen füllen tausende von Blätter, Stunden, Tage, sie sind ein obsessives Zeichensystem, das die Zeit in Serien festzuhalten versucht.

So im ersten Teil des „Jahrhundert-ABC“: Schönschreibübungen, wie man sie aus der Grundschule kennt. Auf liniertem Papier malt Darboven brav ihre u-förmigen Bögen, erst zwei, dann drei, dann vier. Unten rechts auf der ersten Tafel sind es schon 43. Dieser Wiederholungszwang und Präzisionswahn füllt den ganzen Ausstellungsraum.

So dass die ehemalige Hamburger Kultursenatorin Dana Horáková über die „monumentale Sprödheit“ des Werkes der in Harburg beheimateten Künstlerin schwärmt. Nach den großen Darboven-Schauen in den Neunzigern wird der Künstlerin jetzt mit Unterstützung der Kulturbehörde und der Phoenix Kulturstiftung/Sammlung Falckenberg ein neuer Kunstraum in den umgebauten Phoenix-Fabrikhallen erschlossen.

Während in Hannover ihre aktuellen Arbeiten zu sehen sind, zeigt Hamburg Werke aus den 60er bis 80er Jahren. Beispielsweise „Theater ‘85“: Ausgangspunkt ist ein Stundenplan für Schulkinder. Die Stunden-Kästchen sind mit wellenförmig gereihten U-Schwüngen ausgeschrieben. So darf sich jeder selbst fragen, was an jenem Tag in seinem Leben gewesen ist.

Ebenfalls in Hamburg ausgestellt sind die 3.898 Blätter, die bei der „documenta11“ als Treppenhaus- Installation bekannt wurden: „Kontrabass-Solo, opus 45“, eine aus Sätzen und Zahlenketten gefügte Zeit- und Geschichtsaneignung.

Bezüglich der Frage, warum jemand so manisch versucht, Raum, Zeit, Erkenntnis, Kunst zu strukturieren, gehen Texte des Ausstellungskatalogs in die Offensive. Da Darboven als Tochter einer Hamburger Kaffeerösterdynastie nie für ihren Lebensunterhalt ackern musste, büße sie nun mit den asketischen Exerzitien ihrer Kunst, heißt es. Darboven wird mit dem Satz zitiert, im Sinne von „Arbeit, Gewissen, Pflichterfüllung“ kein „schlechterer Arbeiter als jemand (zu sein), der eine Straße gebaut hat“.

Darboven widmet sich jeden Tag von 4 Uhr morgens bis 11 Uhr der Kunst, es folgt eine Stunde Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache, dann Mittagspause, dann Management bis 16 Uhr. Die künstlerische Selbstdisziplinierung könnte als Mechanismus gedeutet werden, Ordnung herzustellen in einem ungeordneten Leben, im Persönlichkeitschaos. Jens Fischer

„Querschnitt. Hanne Darboven“ in den Phoenix-Fabrikhallen, Hamburg-Harburg, bis 15.9. „hanne darboven / ein jahrhundert-abc“ im Haus der Hannoveraner Kestner Gesellschaft, bis 27.7.