: Wie moderne Arbeit aussieht
TAZ-SERIE „AGENDA 2010“, Teil 3: Beschäftigte dürfen und müssen immer mehr selbst entscheiden. Doch wenn der Markt keinen Erfolg hergibt, kommt der Vorgesetzte zurück
Neulich beim Frisör fiel mir der Focus in die Hände. „Starre Kündigungsfristen“, die „Fessel Tarifvertrag“ und hölzerne Gewerkschaftsfunktionäre behindern den „Aufbruch in Deutschland“ und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Wie sich diese Arbeit gestaltet, unter welchen Bedingungen die „Arbeitsplatzbesitzer“ in ihren Betrieben arbeiten, scheint nicht mehr zu interessieren. „Humanisierung der Arbeit“ ist zum Schlagwort aus den Siebzigerjahren mutiert, das nur noch Historiker interessiert. Dabei ist der Arbeitsalltag in immer mehr Betrieben von enormen Belastungen bestimmt.
Erstes Beispiel: Callcenter. In diesem wachsenden Sektor arbeiten zwischen 150.000 und 240.000 Beschäftigte. Das Management versucht durch gemeinsame Freizeitaktivitäten und regelmäßige E-Mails die Vermittlung eines „We are a family“-Gefühls. Doch im Konfliktfall wird die Oberflächlichkeit ihres „Familien-Unternehmens“ deutlich. Die Telefonisten werden mittels technischer Überwachung unter Druck gesetzt. Die Telefonsoftware ordnet Daten dem einzelnen Call-Agenten zu und ermöglicht den Vorgesetzen so auf Knopfdruck den „gläsernen Mitarbeiter“.
Gesteigert werden diese Kontrollmaßnahmen durch Tafeln oder Stellwände, die den Beschäftigten die Erreichbarkeitsquote jedes einzelnen Call-Agenten als eine Art Hitparade darstellen. Die Frage, ob ausreichend Personal beschäftigt wird, die Organisation der Arbeit gut strukturiert ist oder die Technik einwandfrei funktioniert, werden in den Hintergrund gedrängt. Probleme werden als Versagen des einzelnen Beschäftigten angesehen.
Zweites Beispiel: Autoindustrie. In der Automobilbranche wird derzeit der Gruppenarbeit gehuldigt. Vor allem der Teamcharakter dieser neuen Organisationsform wird hervorgehoben. Mit ihr sollten die negativen Folgen der Fließbandarbeit – Entfremdung, mangelnde Identifikation mit dem Produkt – beseitigt werden.
Nach dem Prinzip der Gruppenarbeit werden die Arbeiter in Teams tätig. Indirekte Tätigkeiten – wie Arbeitsvorbereitung und Instandhaltung – werden integriert, die Entscheidungsbefugnis der Arbeiter wird erhöht, damit die Gruppe in gemeinsamer Verantwortung die Arbeitsaufgaben übernehmen kann. Fragen der Arbeitsverteilung werden in der Gruppe weitgehend autonom entschieden. Viele Beschäftigte begrüßten zunächst die Erweiterung der Arbeitsinhalte und Verantwortungsbereiche. Für Außenstehende scheint es einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Beschäftigten und denen des Unternehmens zu geben.
Dass Humanisierung der Arbeitsbedingungen und Effizienzsteigerungen gleichrangig berücksichtigt werden, verkommt jedoch immer mehr zum Etikettenschwindel: Unternehmer nehmen zugesicherte Autonomierechte zurück, selbst wenn sich die Regelungen aus Sicht der Gruppenmitglieder bewährt haben. Die Mitarbeit am „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ führt dazu, dass die Arbeiter selbst für zunehmenden Leistungsdruck in der eigenen Gruppe sorgen. Auch wird vom Unternehmen steigender Druck zur Rationalisierung ausgeübt, indem die Gruppen gegenseitig unter Wettbewerbszwang gesetzt werden. Wenn keine Effizienzsteigerung erfolgt, werden die Arbeiten an einen anderen Standort oder einen externen Anbieter vergeben, lautet meist die Drohung.
Inzwischen hat sich gezeigt: Die geringe Zunahme an Entscheidungsbefugnissen wird ergänzt um ein enormes Anwachsen der Leistungsverdichtung und setzt jedes Gruppenmitglied gravierendem Stress aus.
Drittes Beispiel: IT-Branche. Das WSI-Institut der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung legte 2001 die Auswertung einer Befragung von betrieblichen Interessenvertretern in der IT-Branche vor. Im Ergebnis zeichnen sich die Arbeitsbedingungen im Bereich Informationstechnik durch enormen Leistungsdruck aus. In zwei Dritteln der Betriebe wird häufig Mehrarbeit geleistet. Neue Unternehmensstrategien sind die Ursache für diese Entwicklung. Beispielsweise gibt die Firmenleitung bei IBM die Losung aus: „Ihr selbst seid die Experten. Seht euch den Markt an und tut, was ihr tun müsst.“ Die neue Philosophie wird über firmeninterne Konkurrenzverhältnisse und eine Ausrichtung des einzelnen Spezialisten bestimmten Marktsegmenten gegenüber erreicht.
Eine große Rolle spielt das Prinzip der „indirekten Steuerung“. Danach sollen sich Beschäftigte in scheinbar eigener Verantwortung innerhalb der Vorgaben direkt am Markt orientieren müssen. Bisher klare Anweisungen für einzelne Arbeitsabläufe oder Genehmigungsverfahren beim direkten Vorgesetzten werden durch ein neues Managementkonzept abgelöst. Das Arbeitsverhältnis wird zum Verhältnis „Dienstleister gegenüber Kunden“, um so scheinbar aus dem Arbeitnehmer einen „Unternehmer im Unternehmen“ zu machen.
Die Leistungsdynamik eines Selbstständigen wird so für das Arbeitsverhältnis genutzt. Der Beschäftigte nimmt es zunächst als Befreiung vom bisherigen Zwangssystem „Anweisung und Gehorsam“ wahr, wenn der Unternehmer vorgibt: Arbeitet wann, wie und wo ihr wollt, Hauptsache, ihr seid profitabel. Können die Ziele jedoch nicht erreicht werden, drohen der Entzug von Finanzmitteln, Versetzungen auf niedriger dotierte Stellen, Verlagerung an andere Standorte oder sogar Entlassungen. Die Methoden der Arbeitgeber, diesen Druck zu steigern, sind keineswegs neu. So werden etwa die Zielvorgaben für Projekte nach und nach erhöht oder finanzielle Ressourcen immer knapper kalkuliert.
Aufgaben, Aufträge und Ausstattung werden – im Laufe der Zeit – vom einzelnen Beschäftigten fast nur noch nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip betrachtet. Der einzelne Beschäftige wird in eine Position gestellt, in der er nicht mehr vom Vorgesetzten angewiesen, sondern unmittelbar durch den Druck des Marktes gesteuert wird.
Mit neuen Arbeitsmethoden infolge von Gruppenarbeit, Callcenter oder der „indirekten Steuerung“ in der IT-Branche gelingt es dem Management, Kreativität und persönliches Engagement der Beschäftigten zur Erhöhung der Unternehmensprofite zu nutzen. So ist es möglich, selbstständiges, unternehmerisches Handeln in abhängige Beschäftigungsverhältnisse einzuführen – ohne dass an den Macht- und Eigentumsverhältnissen gerüttelt werden muss. Für die Gewerkschaften ergeben sich neue Anforderungen, um eine Gegenwehr zu entwickeln.
Diese Entwicklungen in den Betrieben spielen in der öffentlichen Diskussion um Rürup, Agenda 2010 oder Hartz keine Rolle. Denn sie stellen die „Arbeit über alles“-Ideologie in Frage. Sie zeigen: Die einst von den Grünen – lange ist es her – in ihrer Anfangszeit erhobene Forderung nach einer existenzsichernden sozialen Grundsicherung, die niemanden in einem reichen Land zum Arbeiten zwingt, ist aktueller denn je.
MARCUS SCHWARZBACH