: Fußball macht Sinn
Ein Jahr lang hat der ehemalige Fernseh-Reporter Holger Obermann in Kabul gewirkt. Nun jagen dort rund 4.000 Jugendliche dem Ball nach. Es ist Labsal für die vom Krieg geschundenen Seelen
VON RONNY BLASCHKE
Holger Obermann kennt die Definition von Tragik. Er könnte von ihr berichten in unendlich vielen Geschichten. Neulich erst führte er ein Gespräch mit einem 13-jährigen Jungen aus Kabul. Ahmad Fahri ist sein Name. Ahmad verlor alles, was ihm wichtig war. Seine Eltern, seine Großeltern und seine elf Geschwister starben bei einem Bombenanschlag. Nur Ahmad hatte es irgendwie geschafft, zu überleben. Doch was heißt das schon in einem Land wie Afghanistan, wo die Gefahr es Krieges überall lauert und die Sehnsucht nach spröder Normalität riesig ist. „Trotzdem hat Ahmad den Spaß am Leben wieder gefunden“, sagt Holger Obermann, der seit fast 30 Jahren als Fußball-Entwicklungshelfer durch die Welt tourt. Er hat gesehen, wie der kleine Junge schon früh am Morgen durch die staubigen Straßen Kabuls lief und einen Ball vor sich herkickte. Einen richtigen, weißen Fußball, wie sie ihn auch in Europa benutzen. Mal umkurvte er einen Felsbrocken, mal schoss er den Ball dem Himmel entgegen – und immer lächelte er.
Sport als Hilfe zur Selbsthilfe: Holger Obermann, 66 Jahre alt, Fernsehreporter a. D. und früherer Profi-Torwart, hat wieder einem bedürftigen Land den Fußball gebracht. Ein Jahr war er in Kabul tätig, in der Hauptstadt Afghanistans. Wobei Stadt ein relativer Begriff ist nach einem zwei Jahrzehnte währenden Krieg. Kabul war sicher nicht der ideale Ort, um die korrekte Ballannahme zu schulen. Und dabei wird es auch bleiben. Kratertiefe Löcher durchziehen die Straßen noch immer, Strom- und Wasserleitungen sind defekt, das Wasser ist verbleit. Doch nicht nur daran mangelt es. Es mangelt an allem.
Und doch hat Obermann, der ewige Krisenmanager, auch Gutes zu berichten. Er spricht davon, wie die Freude am Fußball den grauen Alltag überdeckt. 90 Mannschaften existieren inzwischen in Kabul, sie spielen in vier Ligen, es geht aufwärts, langsam, aber immerhin. „Der Fußball ist Labsal für die geschundenen Seelen“, sagt Obermann, der Seelentherapeut, „er ist ebenso wichtig wie die Pflastersteine zum Wiederaufbau der Stadt.“ 4.000 Jugendliche kicken in den Teams. 4.000 wie Ahmad. Ahmad hat zu Holger Obermann gesagt: „Ohne Fußball hätte mein Leben keinen Sinn mehr.“
Viele spielen barfuß, andere in Sandalen, oft ist die Kleidung zerlumpt. Manche stützen sich auf Krückstöcke und humpeln über die holprigen Felder, es fehlt an Prothesen. Nur wenige besitzen einen handelsüblichen Ball. Sie spielen mit Dosen, mit Steinen, sie haben es gelernt, zu improvisieren. Es wird noch Jahre dauern, bis der afghanische Fußball wieder Anschluss findet an den internationalen Standard Asiens, aber darum ging es Holger Obermann nicht. Er hat in Kabul alles so gemacht, wie er es immer gemacht hat bei seinen 28 Einsatzorten in den hintersten Winkeln dieser Erde, in Nepal, in Gambia, in Osttimor. Er hat seinen Dienst an der Basis verrichtet: 200 Jugendtrainer ausgebildet, Grundlagen gelegt, Hoffnungen geschürt und Durchsetzungsvermögen vermittelt. Wie der Rattenfänger von Hameln muss er sich vorgekommen sein auf seinen Reisen durch die afghanische Provinz. Mit einem Ballnetz über der Schulter und Fußballschuhen im Gepäck. Er hat Volksfeste organisiert, zu denen tausende Menschen kamen; Spiele, die abgebrochen werden mussten, weil Zuschauer, trunken vor Freude, das Spielfeld gestürmt hatten. Und ein Chaos zurückließen, ein Chaos des Glücks. Obermann sagt: „Für die Afghanen ist jeder Fußball eine Kostbarkeit.“
150.000 Euro hat das Projekt gekostet, das von der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt, dem Weltfußballverband Fifa, dem DFB und dem NOK unterstützt wird. 2.000 Bälle hat Holger Obermann nach Kabul einfliegen lassen, hunderte Leibchen und Trikots mit allen erdenklichen Schriftzügen, von Ballack bis Figo. Nur wissen sie nicht, wessen Hemden sie tragen. Es wurde wenig aus der westlichen Welt überliefert. 15 Jahre hat es keine Fernsehübertragung eines Fußballspiels gegeben. Die afghanischen Jugendlichen träumten nicht davon, den Ball streicheln zu können wie Zidane, sie kannten ihn nicht. Die Älteren stellten Holger Obermann seltsame Fragen wie: Spielt Horst Hrubesch noch?
Vor wenigen Tagen ist Holger Obermann zurückgekehrt in die Heimat, nach Frankfurt am Main. Zum ersten Mal seit 13 Jahren ist er polizeilich wieder in Deutschland gemeldet. „Damals beim Fernsehen habe ich in einem Korsett gesteckt. Viele pflegten ihr Ego“, sagt Obermann, „das Fernsehen brauchte meine Hilfe nicht, die Menschen in Afghanistan sehr wohl.“ Nun will er seinen Drang nach Exkursionen etwas drosseln und das Leben auf der sicheren Seite genießen. Drei Anschlägen war er in Kabul nur knapp entgangen.
Wobei: Irgendwann will er die Afghanen schon mal wieder besuchen – und schauen, wie die Entwicklung, die er geebnet hat, vorangeht. Kunstrasenplätze sollen die Mondlandschaft ersetzen, dort, wo lange Zeit Landminen versteckt waren. Bislang konzentriert sich der Spielbetrieb auf das Olympic-Stadion, jene Spielstätte, wo die Taliban noch vor Monaten Menschen enthaupteten oder an den Torlatten erhängten. Mittlerweile wird dort der Torschuss geübt.