Willi bewirkt ein Wunder

Mit zwei Toren in der Nachspielzeit macht die Frankfurter Eintracht den Aufstieg in die Fußball-Bundesliga perfekt und stürzt den FSV Mainz 05 damit in ein tiefes Tal der Tränen

aus Frankfurt TOBIAS SCHÄCHTER

Der Wahnsinn ist in Frankfurt zu Hause, der Größenwahnsinn sowieso. Und nirgendwo weiß man das besser als bei den Fußballern aus der Bankenmetropole. Zu oft stürzte der Adler der Frankfurter Eintracht aus wolkiger Höhe auf den harten Boden der Realität – um danach gleich wieder auf den nächsten Flug nach Wolkenkuckucksheim abzuheben. Alles an Emotionen schien man als Anhänger dieses Klubs schon erlebt, alles schon gefühlt zu haben. Aber das, was sich am späten Sonntagnachmittag in diesen denkwürdigen 90 Minuten gegen den SSV Reutlingen abspielte, hatte noch keiner, der an diesem Tag, dem 25. Mai 2003, in Frankfurt im Stadion war, je erlebt. Es war ein Spiel der tausend Tode – und der tausend Wiedergeburten.

Es geschah in den letzten sieben Minuten, als zuerst zweimal Diakite und dann auch noch Schur aus einem 3:3 ein 6:3 machten – und die Eintracht mit einem Finale furioso die Mainzer Konkurrenten in ein nie dagewesenes Tränental schickten. Ein Tor, nur ein mickriges Törchen mehr hatten die Frankfurter am Ende dieser langen Saison erzielt, und das auch noch in der Nachspielzeit, in allerletzter Sekunde. Es bedeutete den Aufstieg. Es bedeutete den puren Wahnsinn.

Eintracht Frankfurt ist in der Bundesliga. Wieder. Nach einem absurden Spektakel, wie es der Fußball schon lange nicht mehr gesehen hat. Denn sieben Minuten vor Saisonende waren es noch die Mainzer, die aufgestiegen waren. 4:1 führten sie beim Absteiger in Braunschweig – und lagen damit einen Punkt und zwei Tore vor den Frankfurtern. Aber es nutzte nichts, am Ende standen sie mit leeren Händen da, wieder, wie schon in der Vorsaison, als sie ebenfalls in allerletzter Sekunde aus Liga eins vertrieben wurden.

„Das ist an Tragik nicht zu überbieten“, sagte Jürgen Klopp, der Mainzer Trainer, sichtlich um Fassung bemüht, während sein Präsident, Harald Strutz, zusammengekauert auf dem Rasen des Braunschweiger Stadions lag und aus tiefster Seele weinte. Eine Erklärung für das Unglück fand keiner der Mainzer, vielleicht weil es für solch ein Unglück einfach keine Erklärung gibt. Trainer Klopp glaubt trotzdem, dass dies alles für etwas gut sei. „Sonst“, sagte er, „hat doch alles keinen Sinn. Es muss einen tieferen Sinn geben.“ Auch Klopp lag am Boden – und zeigte doch Größe. „Glückwunsch an Frankfurt. Wer am Schluss oben steht, der hat es auch verdient“, sagte er. Und versprach: „Wir kommen wieder!“

In Frankfurt, wo sich die Ereignisse in den letzten Minuten dieses Herzschlagfinales überschlugen, bekannte derweil Willi Reimann, der Trainerkollege von der Eintracht: „Das gibt es nur alle 100 Jahre.“ Sekunden später schüttete ihm sein Spieler Alex Schur einen Liter Bier ins Genick. Reimann ist das Gegenteil eines Frankfurters. Er redet nur, wenn er gefragt wird, und selbst dann nur wenig. Er ist zurückhaltend, kein Zampano, keiner, der große Versprechungen macht. Er ist ein stiller Vertreter seiner Zunft. Willi Reimann, könnte man sagen, ist der Anti-Eintrachtler.

„Wunder-Willi“ nannte ihn die Bild schon letzten Herbst, als die Mannschaft, der selbst in Frankfurt nur die Größenwahnsinnigsten unter den Größenwahnsinnigen den Aufstieg zutrauten, vorne mitspielte. Partner Octagon drehte den Geldhahn ab, der Etat wurde auf 12,5 Millionen Euro halbiert, der Kader dünn –und eigentlich war die Eintracht letzten Sommer schon in die Regionalliga abgestiegen. Die DFL verweigerte die Lizenz, „endgültig“, wie es hieß. Zwei Wochen später hatte die Eintracht die Lizenz zurück. Nun ist sie auch noch aufgestiegen.

Sportlich zähmte Reimann die Skandalnudel vom Main mit klugem Understatement. Sein stiller Realismus setzte sich durch. Die Mannschaft spielt mittlerweile, wie ihr Trainer spricht: unspektakulär und einfach, aber effizient. Es war auch die Zähmung von Widerspenstigen, zum Beispiel die von David Montero und Jermaine Jones, die Reimann im Oktober einer Zechtour überführte, vom Dienst suspendierte – und doch wieder begnadigte, auch weil er auf zwei seiner Besten nicht verzichten wollte. Man nennt das wohl Pragmatismus, Reimanns Autorität hat dieser nicht geschadet. Montero tanzte am Sonntag Breakdance vor der Fankurve, Jones bleibt auch im nächsten Jahr in Frankfurt und wechselt erst 2004 nach Leverkusen. Auch der Verlust von Torjäger Rolf-Christel Guié-Mien – er wechselte in der Winterpause zu Mitaufsteiger SC Freiburg – warf die Mannschaft nicht aus der Bahn.

Willi Reimann besitzt nur einen Vertrag für die Zweite Liga; er wird dennoch bleiben. Ein Sportmanager soll ihm zur Seite gestellt werden. Der Bundesligaetat wird auf 23 Millionen Euro taxiert. Die Spieler Streit (nach Wolfsburg) und Diakite (Nizza) verlassen den Riederwald. Sechs Neuzugänge stehen bereits fest: Kleine (Leverkusen), Dragusha (Trier), Kreuz (Köln), Lexa (Teneriffa), Pröll (Köln) und Frommer (Reutlingen) kommen in die Hessen-Metropole, zwei weitere Akteure sollen noch dazustoßen.

Ob das wohl reicht für Liga eins? Wunder-Willi hält den Ball schon jetzt schön flach. „Für uns geht es um den Klassenerhalt“, sagte Willi Reimann – nur ein paar Stunden, nachdem seine Eintracht ein Wunder vollbracht hatte und aufgestiegen war.