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Archiv-Artikel

„Die Schatten der Taten müssen bleiben“

Die Generationskonflikte gehen, Guido Knopp kommt: Es gibt derzeit, sagt Hannes Heer im taz-Gespräch, ein großes, unbegriffenes Fasziniertsein von der Nazizeit. Der Historiker über die Deutschen als Täter und als Opfer und darüber, dass nur gespaltene Erinnerungen wirklich erwachsen sind

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Herr Heer, Sie behaupten, dass es eine erinnerungspolitische Wende gibt – zurück zu einem Bewusstsein, in dem die Deutschen von 1933 bis 1945 vor allem Opfer waren. Welche Indizien sprechen dafür?

Hannes Heer: Erinnern wir uns kurz, was war. In den 90ern machte das Buch von Christopher Browning über das Morden des Hamburger Polizeibataillons in Polen Furore; die Tagebücher von Victor Klemperer zeigten den Durchschnittsdeutschen in seiner Verblendung, seiner Feigheit, seinem Hass; Daniel Goldhagen präsentierte seine Thesen von den „willigen Vollstreckern“, und die erste Wehrmachtsausstellung zeigte nicht nur die Verbrechen, sondern auf den selbst geknipsten Fotos auch die grinsenden Täter. In all diesen Arbeiten wurde die Volksgemeinschaft, wurden die normalen Deutschen ins Zentrum gerückt. Das ist jetzt vorbei. Man will das nicht sehen. Denken Sie an die Holocaust-Ausstellung 2001 im Deutschen Historischen Museum. Dort sah man namenlose oder gesichtslose Täter. Der gleiche Effekt in dem zeitgleich fertig gestellten Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitaggelände in Nürnberg: Die Nazis werden wie Desperados geschildert, die aus dem Nichts auftauchen, ohne dass die Paten der frühen und die Komplizen der späten Jahre auch nur erwähnt werden. Die neue Wehrmachtsausstellung fügt sich in diese Tendenz: statt der 1.400 Landserfotos, die an die Verantwortung von Millionen Soldaten erinnern, die gepflegten Porträts von 70 Generälen. Diese Wende ist eine Antwort auf das plötzlich und überscharf auftauchende Bild der Täter. Das war nicht nur neu, sondern vor allem ein Schock.

Ist das Bild nicht vielschichtiger? Es gab ja auch zuvor schon Täterforschung – etwa das Buch von Ulrich Herbert über den SS-Mann Werner Best.

Das Best-Buch ist ein wichtiger Beitrag gewesen, wie die in seiner Nachfolge entstandene Arbeit von Michael Wildt über das Reichssicherheitshauptamt. Aber das sind Studien zu Angehörigen der NS-Elite und zu Institutionen des Terrors. Da geht es nicht um den Täter als jedermann, um die „ganz normalen Männer“. Studien mit diesem Blick auf die Täter sind in der Forschung in der Minorität.

Ist die erinnerungspolitische Landschaft damit vollständig? Nehmen wir als Symbol den Fall Martin Hohmann: Vor 30 Jahren hätte er wohl durchaus für die Mitte der Union gesprochen, heute wirft ihn Merkel aus der CDU-Fraktion und macht die Formel von der „Singularität des Holocausts“ zur Parteilinie. Das war mal die Parole der Linken im Historikerstreit. Das zeigt doch, gewiss überfällig und zu spät, eine grundstürzende Veränderung.

Ich bewerte den Fall Hohmann ganz anders. Angesehene deutsche Verlage publizieren die These des Historikers Bogdan Musial vom „Tätervolk“ der Juden in der Westukraine, die an ihrer Ermordung beim Einmarsch der Deutschen selbst die Schuld trugen. Jörg Friedrich hat enormen Erfolg mit seiner Analogie von Bombenkrieg und Holocaust – und die Rezensenten gehen milde drüber hinweg. Insofern würde ich eher sagen, dass Hohmann geopfert wurde, um weiter gehende Debatten zu beenden und die Fragen nach seinen Stichwortgebern gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Ausschluss Hohmanns deckt etwas anderes zu.

Aber das kollektiven Geschichtsbild hat sich verändert.

Es hat sich ein gewisser Konsens herausgebildet. Gegen das Holocaust-Denkmal hat heute niemand mehr etwas, auch kein prominenter CDUler. Allerdings möchte man dann auch ein Vertriebenenzentrum. Der Konsens hat also einen hohen Preis.

Ist das wirklich ein Preis? Wir sind uns einig, dass Erika Steinbach und die Vertriebenenverbände falsche, gestrige Ideen vertreten. Aber die Frage bleibt: Welche Erinnerung an deutsche Opfer ist möglich? Und wie? Wer das tabuisiert, produziert eine abgespaltene Erinnerung.

Die Linke hat immer auf die Ursachen geschaut und gefragt: Wer war schuld? Die Nazis, die deutsche Volksgemeinschaft. Das greift bestimmt zu kurz. Man muss, wo ein Einzelner oder eine Gruppe zum Opfer wurde, auch Raum für Trauer schaffen. Gefährlich wird es aber, wenn man die Bombardierung von Dresden und die Opfer beschreibt – und ausblendet, dass dies für den „Juden“ Klemperer die Befreiung war. Oder über den Feuersturm in Hamburg redet und nicht wahrnimmt, dass sich Hamburger Juden im KZ Theresienstadt gefreut haben, als sie davon hörten, weil sie wussten, dass der Krieg bald vorbei ist. Wenn man den Deutschen Victor Klemperer – den Deutschen, denn zum Juden ist er erst gemacht worden – aus dieser Beschreibung einfach ausklammert, so wie es Jörg Friedrich tut, dann bedient man sich der Terminologie der Nazis und denkt wie sie. Und man darf nicht über das Leiden der Deutschen im Krieg und Nachkrieg reden, ohne zu erwähnen, was Nazideutschland in Europa zuvor angerichtet hat.

Hannah Arendt hat 1950 präzise beschrieben, wie die Deutschen damals ihr eigenes Leid benutzt haben, um den Mord an den Juden und ihre Schuld zu verdrängen. Das war die Mechanik – aber eben die vor 50 Jahren. Und heute? Ist dieses mechanische Entweder-oder, das die antideutsche Linke ja nur umgedreht hat, aus der historischen Distanz und angesichts des Generationswechsels nicht einfach vorgestrig?

Ich plädiere ja nicht für dieses Entweder-oder. Ich bin nicht dafür, die alte Frontlinie – hier Verschweigen der Taten und da die Verurteilung – weiter zu befestigen, weil dabei die Trauer auf der Strecke bleibt. Trotzdem: Nehmen wir noch mal den sensationellen Erfolg des Buches „Der Brand“. Jörg Friedrich arbeitet mit einem Begriff aus den 50er-Jahren und im Grunde aus der NS-Zeit mit dem Begriff „uns Deutsche“, der ausschließt, wer politisch oder rassisch nicht hineinpasst: Die Kommunisten, die Juden, alle, die widerständig waren, kommen nicht vor. Dieses Buch kaufen auch viele Jüngere – insofern kann ich Ihren Optimismus betreffs des Generationswechsels nicht teilen.

Was folgt denn aus Ihrer Kritik an Friedrich? Die Antwort müsste ein Buch eines „linken“ Historikers über den Bombenkrieg sein. Oder?

Dies Buch müsste jemand schreiben, der genau ist und der sich immer bewusst ist, dass wir eine „gespaltene Erinnerung“ haben.

Schauen wir auf Bücher wie Günter Grass’ „Im Krebsgang“ , Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ und auch auf den Erfolg von Jörg Friedrichs „Brand“. Sind das nicht auch Reaktionen darauf, dass die Linke, die sich ja erinnerungspolitisch die Diskurshoheit erkämpft hatte, das Thema „Deutsche als Opfer“ beiseite geschoben hatte? Kommt da etwas zur Sprache, was lange in die Ecke gestellt war?

Das berührt wieder die Frage der Mechanik: Ende der 60er entstand kollektiv auf das Verdrängen und Umdeuten der Älteren die scharfe Frage nach den Verantwortlichen. In der Überreaktion auf das Schweigen und Lügen war wenig Raum dafür, auch Deutsche als Opfer zu sehen. Davon ist wahrscheinlich ein Rest bis heute im Bewusstsein geblieben.

Wichtiger scheint mir etwas anderes, etwas, was man an der ersten Wehrmachtsausstellung ablesen konnte. Ich glaube, dass diese Ausstellung die Mauer zwischen der großen Geschichte, für die niemand verantwortlich war, und der Familiengeschichte durchlässiger gemacht hat. Über alle Parteien hinweg – etwa in der Bundestagsdebatte zur Ausstellung – und auch generationsübergreifend wurde Geschichte als Familiengeschichte verstanden. Das war von den Machern gar nicht beabsichtigt, aber die Ausstellung hat geholfen, diesen Raum zu öffnen.

Ich finde, dass Uwe Timm etwas Ähnliches tut: Er bearbeitet Familiengeschichte in einer Suchbewegung zu jemand, der ihm nah war – aber ohne die Schatten, die die Taten hinterlassen haben, wegzulassen. So, und nur so, kann eine erwachsene Aneignung der Vergangenheit und vielleicht auch so etwas wie eine Heilung geschehen. Das Gegenbeispiel ist Ulla Hahn mit ihrem Plädoyer für „unscharfe Bilder“: Da geht es um eine Generationenversöhnung, die sich um die Tatsachen herummogelt. Wenn der Vater als Täter ins Bild kommt, folgt sein Ohnmachtsanfall – und man sieht nichts mehr. Bei Thomas Medicus, dessen Großvater als Wehrmachtsgeneral von Partisanen erschossen worden ist, verhält es sich ähnlich. Das sind Indizien für ein fortwährendes massives Bedürfnis, die Täter doch nur als die lieben Verwandten zu sehen.

Die Gefahr ist also – 60 Jahre danach – der späte Versöhnungskitsch?

Ich glaube, ja. Eigentlich, da gebe ich Ihnen Recht, könnte man sich doch selbstbewusster, entspannter und genauer anschauen, was damals geschehen ist. Aber offenbar fällt das trotz der 60 Jahre sehr schwer. Mich irritiert, dass das öffentliche Interesse an der NS-Zeit wie eine Fieberkurve verläuft. Zehntausende lesen Goldhagen, 900.000 gehen in die erste Wehrmachtsausstellung, tausende besuchen die Marathonlesungen der Tagebücher von Klemperer – und nun kaufen sich plötzlich hunderttausende das Buch von Friedrich. Diese Ausschläge zeigen, dass da noch etwas brüchig ist, nicht selbstverständlich, nicht gelassen. Deshalb auch die Schwierigkeit, den Blick auf die Gesichter der Täter zuzulassen.

Aber flacht diese Kurve nicht gerade ab? Das Skandalisierungspotenzial der NS-Zeit scheint doch gerade zu verschwinden. Die ödipale Revolte, die ja für viele dramatische Effekte gesorgt hat, ist selbst Geschichte geworden. Die NS-Zeit ist nicht mehr so aufgeladen mit Identitätspolitik. Wir erleben also eine unter anderem durch den Generationswechsel bewirkte Entdramatisierung der NS-Zeit.

Ja, den biografische Kern als Grund gibt es nicht mehr – geblieben ist dieses übergroße Interesse an der NS-Zeit. Nehmen Sie die Belletristik oder die endlosen Guido-Knopp-Serien. Das Interesse daran speist sich nicht mehr aus dem ödipalen Konflikt der zweiten Generation mit den Eltern. Es geht um etwas anderes. Was hier wirkt, ist das, was unter der Realgeschichte liegt – die Faszinationsgeschichte, die Kavernen der Tabus. Weil so viel verschwiegen oder umgedeutet wurde, ist dieser Teil so überproportional. Ungehindert von den Fakten wirkt das Faszinosum des Bösen, der absoluten Freiheit, der starken Männer, des starken Staates und dergleichen mehr. Wenn ich sehe, wie familiär der Blick auf die Nazis in den Knopp-Filmen ist, habe ich das Gefühl, wieder in den 50er-Jahren gelandet zu sein. „Die Deutschen“, sagte ein englischer Freund neulich beim gemeinsamen Fernsehen zu mir, „schauen sich ihre Nazifilme an.“ Die von heute.