: Meister ohne Zwang
Die Bundesregierung will nicht nur das Meisterprivileg lockern. Gleichzeitig soll die Schulung der Ausbilder wegfallen. Die Kammern schlagen Alarm, unabhängige Handwerker gehen auf Distanz
von CHRISTIAN FÜLLER
Für junge Deutschtürken ist auf dem Weg zum Meister oft früh Schluss. Die Zwischenprüfung für Gesellen im Fleischerhandwerk sieht vor, dass ein Schwein fachgerecht zu zerlegen ist. Viele gläubige Muslime wollen das aber nicht. Für sie ist Schweinefleisch unrein, sie mögen es nicht berühren. Also können sie weder Geselle werden noch später Meister ihres Fachs. Die Vorschriften der Fleischer – eine hohe Hürde für Immigranten.
Simone Schiller mag die kulturell-religiös begründete Zurückhaltung junger Deutschtürken nicht recht verstehen. Die Geschäftsführerin der Berliner Fleischerinnung sagt: „Diese Verweigerung entbehrt jeder fachlichen Grundlage. Schwein gehört nun mal zur Herstellung der Wurst. Wer es nicht schlachten und zerlegen kann, schränkt die Vielfalt der Würste unheimlich ein.“ Schafe zerlegen gilt nicht. Vorschrift ist Vorschrift, Schwein bleibt Schwein.
Von den Ausbildungsvorschriften abrücken müssen die Fleischermeister nicht. Denn die Handwerkskammern, in denen die Fleischer und andere Gewerke sich organisieren, sind nicht irgendwelche nichts sagenden Vereine. Die Kammern haben ein Wörtchen mitzureden. Sie nehmen für den Staat hoheitliche Aufgaben war. Nur wer von ihnen in die Handwerksrolle aufgenommen wird, hat das so genannte Meisterprivileg. Es bestimmt, dass ausschließlich derjenige ein Handwerksgeschäft führen darf, der Meister ist. Und nur ein Meister darf auch Lehrlinge ausbilden. So steht es in der Handwerksordnung, einem Gesetzeswerk, das viel vom mittelalterlichen Zunftwesen in die Bundesrepublik herübergerettet hat. Ein alter Zopf – und damit ein Fall für Rot-Grün.
Die rot-grüne Regierung nämlich will die Handwerksordnung modernisieren. Sie hat erkannt, dass die Kammern mit dem Meisterbrief mehr anstellen, als die Berufsqualität im Handwerk zu sichern. Sie missbrauchen ihr Privileg dazu, lästige Konkurrenten abzuhalten. Das behindert Innovation und Wachstum, so lautet das Argument von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD). Also soll das Meisterprivileg „gelockert“ werden. In über 60 von bislang 94 geschützten Branchen des Handwerks sollen künftig auch erfahrene Gesellen Betriebe gründen und ausbilden dürfen. Am heutigen Mittwoch will das Kabinett die neue Handwerksordnung als Parlamentsvorlage beschließen.
Doch mit dem Zöpfeabschneiden ist es so eine Sache. Zwar unterstützen wichtige Experten den Plan Clements. So stellt etwa die Monopolkommission der Bundesregierung fest, dass die Regulierung der Märkte durch das Handwerk massiv in die Freiheitsrechte derjenigen eingreift, die durch die Kammern am Marktzutritt gehindert werden. Also weg damit.
Doch schon beim Bildungsaspekt des Meisterbriefs scheiden sich die Geister. Dass die korporatistische Ruine Meisterprivileg geschleift werden soll, ist das eine. Aber fiele damit nicht auch ein Kernstück des Bildungssystems: die niveauvolle Ausbildung zum Facharbeiter und Gesellen? In Deutschland galt es von jeher als Ausdruck von geordneten Verhältnissen, nach der Schule einen Beruf zu ergreifen. Und das hieß: ihn unter den Fittichen eines Lehrmeisters zu erlernen.
Als Ergänzung zur clementschen Handwerksreform will Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) aber nun die so genannte Ausbildereignungsverordnung außer Kraft setzen. In ihr ist festgelegt, was Lehrherren können müssen, um aus Azubis ordentliche Gesellen zu machen. Ab August müssen Gesellen außerhalb des Handwerks diese Prüfung nicht mehr ablegen – und dürfen trotzdem ausbilden.
Anita Bohlig kann der Bulmahn’schen Maßnahme wenig abgewinnen. „Da will man nun, dass Betriebe gut ausbilden“, sagt die von der Kammer bestellte Prüferin, „und dann lässt man Gesellen unvorbereitet und ohne methodische Kenntnisse auf die Auszubildenden los. Das halte ich für unverantwortlich.“
Bohlig ist eine ältere Dame. Sie war Berufsschullehrerin, hält aber auch als Pensionierte noch auf ihre Profession. Sie prüft angehende Meister in Arbeits- und Berufspädagogik. In der von der Bildungsministerin verfügten fünfjährigen Aussetzung der Ausbildereignungsverordnung sieht die Pädagogin a. D. keinen Fortschritt, sondern einen Rückfall. „Früher mussten die Lehrlinge Kaffee kochen und die Werkstatt auskehren – dahin kommen wir jetzt zurück“, befürchtet sie.
Wie Bohlig denken sie alle im Handwerk. Vom großen Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks bis hinab zur Meisterkandidatin Victoria Montes de Sydow. Die „Kunsttechnikerin in Gips“ hat gerade ihre Ausbilderprüfung hinter sich gebracht – und ärgert sich kein bisschen, dass sie etwas umsonst gepaukt hätte. „Ich habe viel über die psychologische Situation von Lehrlingen gelernt“, sagt sie und spricht stolz vom „Feingefühl, mit jungen Leuten umzugehen.“
De Sydow ist gut im Geschäft. Ihre handgefertigten Gipsformen schaffen die Grundlage dafür, dass die Pralinen der großen Firmen im internationalen Schoko-Geschäft wie Nestlé oder Niederegger die richtige Gestalt haben. Die gebürtige Argentinierin ist 46 Jahre alt und seit 15 Jahren im Beruf – und trotzdem hat sie sich noch die Meisterin in den Kopf gesetzt. „Ich will nicht, dass mein Beruf ausstirbt“, sagt sie – und ist bereit, dafür insgesamt 10.000 Euro in ihre Meisterprüfung zu investieren. Denn auch in ihrer Branche gilt: Ohne Meisterbrief keine Lehrlinge.
In den Worten von Victoria Montes de Sydow steckt viel von dem kulturellen Erbe des goldenen Handwerks. Der Anspruch, die Profession mit all den dazugehörigen Fertigkeiten weiterzugeben etwa. Doch diese Zeiten des Handwerks sind längst vorbei. Wenn Zentralverbandschef Dieter Phillip protzt, das Handwerk bilde mit über 500.000 Jugendlichen ein Drittel der deutschen Lehrlinge aus, ist das nur die halbe Wahrheit. In den 50er-Jahren waren es 60 bis 70 Prozent. Seitdem hat ein drastischer Rückgang der Ausbildungsleistung stattgefunden – gerade in den vom Meisterbrief abgeschirmten Branchen des Handwerks. In den anderen Gewerken, wo auch Gesellen ausbilden, ist die Entwicklung genau umgekehrt. Dort steigt die Zahl der Unternehmen und der Lehrherren jährlich um 6 Prozent an. Wachstumsraten, auf die auch Clement und Bulmahn hoffen.
Bestärkt werden sie von unabhängigen Handwerkern wie Thomas Melles. Melles ist frei von jeglicher Animosität gegenüber dem Kartell der Kammer. Das Meisterprivileg nennt er Meisterzwang. Und die Kammern entsprechend althergebrachte Zwangsvereine, die bis heute Demokratie nicht zu praktizieren wüssten, sondern weiter auf ständische Traditionen pochten.
Für Melles ist das Meisterprivileg auch in puncto Qualität ein Märchen. „Ich habe meinen Meister nie gesehen“, berichtet er von seiner Ausbildung. „Gerade in den Bauberufen lernen die Auszubildenden doch nur vom Gesellen.“ Der Bund unabhängiger HandwerkerInnen, dem Melles angehört, sieht in der Abschaffung des Meisterzwangs sogar Vorteile für die Ausbildung. Dann könnten endlich freie und offen denkende Menschen ausbilden. Und nicht mehr dünkelhafte und autoritäre Lehrherren, wie es Meister heute noch häufig seien. „In vielen Betrieben werden Lehrlinge gezüchtigt“, behauptet er.
Dass aber mit der Meisterprüfung zugleich jegliche Qualifikation für Ausbilder abgeschafft wird, wundert den engagierten Handwerker denn doch. „Das ist der Plan von Frau Bulmahn, wir haben das nicht gefordert.“