: Liebe deinen Nächsten!
von JAN FEDDERSEN
Ist ja nicht wahr, dass Frömmigkeit fleischlos sein muss. Kirchentage sind der beste Beweis dafür, wie sehr die Frohe Botschaft, ja, das Bekenntnis zum Hohelied des König Salomo, überliefert im Alten Testament, gelebt werden kann. Und zwar scheu und entschlossen in einem, zurückhaltend und forsch zugleich. Denn wo zwei zusammenliegen, heißt es an dieser Stelle der Heiligen Schrift, werde dir warm. Und wo zwei seien, entstehe ein Drittes – die Liebe.
Und jeder Mann, jede Frau auf dem Kirchentag wird die biblischen Vorbilder auf seine oder ihre Weise nutzen, auf dass es fromme. Adam und Eva, Maria und Joseph, Abraham und Sarah, Jonathan und David, Jesus und Johannes, Ruth & Naomi: Sogar die Singlefrau Maria Magdalena, die missverständlicherweise in bigotteren Zeiten als Hure unverstanden wurde, darf als Idol genommen werden.
Kirchentage, das sind, oberflächlich betrachtet, monströse Feiern einer Laienbewegung von Christen, die nichts anderes als spirituelles Zeug im Kopf haben. Als ob Spiritualität nichts zutiefst Weltliches wäre – und das Fleischliche, das Sexuelle, das Weitergebende also ohnehin. Und ist nicht jeder sein eigener Mensch, der auch während des Kirchentages über die Runden kommen möchte? Eben drum. Deshalb möchten die Kirchentagsbesucher ja tatsächlich, jeder und jede für sich, etwas Überwältigendes erleben. Sie nennen es Gott und haben Recht damit, aber sie meinen sich, ihre Kraft zur Transzendenz. Weltlich gesprochen: die Power, jemanden anzugraben, zu verführen, flachzulegen. Denn sie kommen in überwältigender Mehrzahl aus Regionen, wo die Stadt fern ist und lockende Sünde nicht offenbar. Gott sei Dank finden Kirchentage immer in Metropolen statt: also dort, wo es quirlt und bubbelt, wo es andere Menschen gibt, nicht immer die gleichen, die man morgens in, sagen wir: Backnang, Eutin, Zella-Mehlis oder Kamp-Lintfort beim Brötchenholen trifft. Das auszuhalten, das täglich hinzunehmen, wäre auf die Dauer sozio-inzestuös, deswegen gibt es so schöne Ereignisse wie Kirchentage.
Ein Kirchentag, ganz woanders auch immer, ist die Chance, mal anderes zu erleben. Das Überraschende zu genießen – weil es geschehen kann. Zwar ist den Organisatoren, die noch allzu stark an den Konventionen des Frömmelnden festhalten, nicht ganz wohl bei dieser Vorstellung. Aus genau diesem Grund wird auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin auch nicht nur faire Schokolade verteilt, sondern auch reißfeste Kondome. 20.000 Stück von ihnen, hieß es, seien ein Beitrag zur Prävention. Eine schöne Idee, wobei allerdings gefragt werden muss, ob diese Stückzahl nicht vom Pessimismus (oder, je nach Perspektive, Optimismus) zeugt: nur 20.000-mal Geschlechtsverkehr unter den 100.000 Jugendlichen, die allein von heute in Berlin angereist kommen? Hieße das nicht, die hormonellen Schwankungen bei all dem Halleluja und Amen zu unterschätzen?
Denn wahr ist doch auch, dass noch heute unbelehrbare SED-Kader von einst behaupten, die Ostberliner Weltjugendfestspiele seien ein flammendes Zeugnis der Kraft des Weltkommunismus gewesen – und nichts sonst. Nichts als eitel Haschen nach lauem Wind. Tatsächlich war dieses Woodstock des realen Sozialismus ein einziges Kopulationslager – ob in den Büschen unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz oder im Volkspark Friedrichshain am Märchenbrunnen bei aufgehender Sonne: Da wurde der Internationalismus auf sehr nahe liegende Weise ernster genommen, als es sich Margot Honecker vermutlich vorstellen mochte.
Auch Kirchentage sind Woodstocks, auch sie sind Treffen, bei denen es aufs Come together über alle regionalen Grenzen hinweg ankommt. Und weil das die Kirchenoberen wissen, haben sie die Schlafsäle, in die die Berliner Schulaulen während der kommenden fünf Tage umgewidmet werden, auch mit AufpasserInnen versehen. Aber das glaubt ja doch keiner, dass zwischen all dem Mädchengekicher und Jungsgelächter auch nur irgendein Paar sich davon abhalten ließe, das zu suchen, von dem das Hohelied des König Salomo so eindringlich schwärmt: die Nähe des anderen, das Ineinandersein auf die keuscheste Art.
Und das muss auch so sein, denn, jeder weiß das, Kirchentage verströmen eine gutherzige Stimmung an und für sich, was auch bedeutet, dass die Schönheitsideale der kalten, unchristlichen Welt, also die Männer und Frauen aus Magazinen wie Fit For Fun, deren Körper mehr gemeißelt als gestreichelt scheinen, dass jedenfalls diese ingenieurhaften Körperauren nichts zählen. Auf allen Kirchentagen der Nachkriegszeit hatten auch Männer und Frauen in unmodischen Outfits Chancen, von denen sie in ihrer Heimat nicht wussten, dass sie sie überhaupt ergreifen könnten: Von heute an zählt in Berlin auch Charakter, jawoll. Denn ein frohes Wesen muss nicht, kann aber sehr sexy wirken. Früher lästerte man noch, junge Christinnen trügen gern evangelische Blockflötenmienen, Christen sehr unentspannte Pfadfindertüchtigkeit zur Schau. Üble Nachrede das. Sexy sei, wer die Materialprüfungen des Körperlichen mit übersteht, weil die Seele lockend schimmert: Und dann stellt sich die Kondomfrage ganz natürlich von allein.
Nein, wer einen bedenkenswerten Kirchentag erleben möchte, wer Krisen spürt und von ihnen nicht loskommt, bekommt ein umfangreiches Beratungsangebot geliefert. Wer jedoch in Berlin frohe Tage über das Singen und Beten hinaus genießen möchte, dem oder der sei versichert: Berlin hat sehr schöne Grünanlagen. Das Grün der Pflanzen und Bäume ist frisch und duftet zart und sei deswegen gelobt, mindestens bis Sonntag. Ausgesprochen lauschige Plätzchen hat’s auch, um einander aus der Bibel vorzulesen – und anderes mehr. Der prächtige Boulevard Unter den Linden wird nicht zum Pfad nach Golgatha, sondern zur spirituellen Cruising Area, auf der jeder oder jede seinen oder ihren Weg ins Gelobte Land der Liebe zu Gott und zum oder zur Nächsten finden kann.
Wer jetzt noch von Sünde spricht, der das Wort geredet wird, hat die Bibel falsch verstehen wollen. So wahr uns Gott helfe: Ihr sollt ein Segen sein!