: „Die Kirche braucht Partisanen“
Interview PHILIPP GESSLERund BERNHARD PÖTTER
taz: Herr Lehmann, haben Sie schon einmal bewusst einem Protestanten die Kommunion gegeben – was eigentlich verboten ist?
Karl Lehmann: (überlegt lange) Ja. Aber ich habe vorher gesagt, dass ich das zwar nicht propagiere, aber in einem einzelnen Fall und unter bestimmten Bedingungen dulde. Ich habe in diesem Fall erklärt: „Ich verkünde nicht, dass auch Sie die Kommunion bekommen, aber wenn Sie zum Altar kommen und die Hostie nehmen, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
Sie sind ja in guter Gesellschaft: Selbst der Papst hat dem Anglikaner Tony Blair die Kommunion gereicht.
Ja, auch bei den protestantischen Brüdern von Taizé hat er das wohl gemacht. In seiner jüngsten Enzyklika stellt der Papst in aller Klarheit fest, dass es keine gemeinsame Feier zum Abendmahl geben darf. Aber im einzelnen Fall wäre es möglich. Das ist nicht ausdiskutiert.
Das ist schwer zu vermitteln: Der Papst macht es, ein Kardinal macht es, aber in Berlin beim Ökumenischen Kirchentag darf es nicht stattfinden.
Da geht es um zwei ganz verschiedene Dinge. Es ist ein Unterschied, ob ein einzelner Protestant in einem katholischen Gottesdienst die Kommunion empfängt oder ob es eine gemeinsame Feier beider Konfessionen und eine wechselseitige Einladung zum Abendmahl gibt.
Das ist doch katholische Scheinheiligkeit: Man kann alles machen, wenn es nicht an die große Glocke gehängt wird. Das gemeinsame Abendmahl wird in den Gemeinden, wenn auch in aller Stille, massenhaft praktiziert.
Es passiert nicht massenhaft. Und die Unterscheidung zwischen einzelnen und dem, was eine Gemeinde oder die Kirche tut, ist etwas Grundlegendes.
In der Realität zeigt sich hier doch eine Kirchenspaltung zwischen oben und unten: zwischen der Theologie, die das Abendmahl verbietet, und dem Kirchenvolk, das es praktiziert.
Das Volk Gottes ist hier genauso gespalten wie die Theologie. Und außerdem: Was faktisch passiert, ist deshalb noch längst nicht in Ordnung. Denn hier geht es um sehr schwerwiegende und tiefreichende Fragen, die auch nicht jedem Theologen in der Tragweite voll bewusst sind. Beim sehr sozialen Sakrament der Eucharistie kann ich mich auch nicht nur auf das Gewissen berufen.
Sie selbst waren schon weiter. 1970: „Die Kirchenspaltung ist, theologisch gesehen, ein größeres Ärgernis als die Vorwegnahme der Einheit der Kirchen durch Interkommunion.“
Nein, nein, ich war nicht weiter. Es ging darum, wie man einzelne Menschen zu bewerten hat, die in dieser Frage sehr drängen. Ich habe Verständnis für Menschen in konfessionsverschiedenen Ehen, bei denen die Auswirkungen der Spaltung groß sind. Aber die Leute, die aus Ungeduld ein gemeinsames Abendmahl erzwingen wollen, verstehe ich nicht. Noch einmal: Mit der Tradition der Alten Kirche, mit den Orthodoxen Kirchen sagen auch wir: Kommunionsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft gehören untrennbar zusammen. Etwas anderes sind seelsorglich begründete Ausnahmen im Einzelfall.
Der Streit um das gemeinsame Mahl prägt ja nicht zufällig den Kirchentag. Da wird diskutiert, wo die Christen in der Gesellschaft stehen. Hat der Einfluss der Kirchen in den letzten Jahren zu- oder abgenommen?
Auch früher war vieles nicht so gut, wie man manchmal nostalgisch denkt. Auch Konrad Adenauer war bekannt dafür, dass er jeden klerikalen Zugriff in die Politik hinein abgewehrt hat. Die Kirche ist nach wie vor ein wichtiger Gesprächspartner. Es gibt ein paar Punkte, bei denen wir auch fürs Detail auf die Barrikaden gehen müssen – etwa beim besonderen Schutz von Ehe und Familie oder bei der Bioethik. Da bin ich mir gar nicht so sicher, ob der Einfluss der Kirchen so zurückgegangen ist. Und mit den Parteien haben wir regelmäßige Gespräche.
Der Göttinger Politologe Franz Walter sagt, die Kirchen hätten in der Politik seit Mitte der Neunzigerjahre an Bedeutung gewonnen.
Ach, da wäre ich genauso skeptisch. Sobald krisenhafte Phänomene da sind, ob es die Ereignisse des 11. September oder das Schulmassaker in Erfurt sind, ist die Sensibilität für Religion sehr groß.
Sie profitieren vom Unglück: Not lehrt beten?
Nein, das sind ja nicht wir. Das ist ja eher die höchst problematische Reaktion der Leute. Ich bete doch jeden Tag um Frieden. Es gibt keine Eucharistiefeier ohne den Gruß: „Der Friede sei mit euch!“
Walter hat auch festgestellt, dass die Gesellschaft den Kirchen inzwischen eher wohlwollend entgegentritt. Wie haben Sie das geschafft?
Ich erlebe auch klare Ablehnung. Hier in Mainz gibt es auch viele Leute, die mich zum Beispiel auf der Straße regelrecht ignorieren. Das öffentliche Klima ist nicht rundum günstiger geworden. Und bei den Fragen wie Abtreibung gibt es nach wie vor klare Fronten. Da haben wir auch in keiner Weise klein beigegeben. Natürlich gibt es eine gewisse Liberalisierung: Alles Mögliche wird geduldet. Sogar katholisch zu sein. So ist auch manches leichter, toleranter geworden – weil alles unverbindlicher geworden ist.
Die Kirchen dagegen sortieren ihr Wohlwollen neu. In vielen großen Streitfragen der vergangenen Jahre, etwa bei der Migration oder der Bioethik, stand die katholische Kirche nahe bei der SPD oder den Grünen. Kann man denn als Katholik noch die CDU wählen?
Ja, warum denn nicht? Man muss sich die einzelne Politikerin und den einzelnen Politiker anschauen. Ich würde nicht unbedingt jeden CDU-Mann wählen – und auch nicht jeden Grünen.
Das traditionell gute Verhältnis der Katholiken zur CDU ist in den letzten Jahren gestört. Der Kölner Kardinal Meisner hat in Frage gestellt, ob die CDU noch das „C“ in ihrem Namen tragen darf.
Aber das ist nicht die Meinung der Bischofskonferenz. Natürlich darf sie es behalten. Die anderen, die gerade ihr Jubiläum feierten, behalten ja auch ihr „S“. Das Spektrum ist einfach sehr viel breiter geworden. Die CDU ist eine Volkspartei. Sie hat ja auch Bekenner des jüdischen Glaubens bei sich, etwa Michel Friedman.
Aber der Ton ist manchmal scharf: Kardinal Sterzinsky etwa nennt die Migrationspolitik der CDU eine „Schande“.
Jetzt greifen Sie nicht immer nur eine Art von Zitaten heraus. Nicht jeder Bischof oder Kardinal ist repräsentativ für die gesamte Bischofskonferenz. Es gibt viele vorbildliche Christen in verschiedenen Parteien. Und hinsichtlich der CDU ist immer das jahrzehntelange differenzierte Verhältnis zu den Kirchen im Westen mitzubedenken.
Wer macht noch christliche Politik?
Ich mag den Begriff christliche Politik überhaupt nicht. Es gibt nur so etwas wie eine Politik aus christlichem Geist.
Warum?
Politische Entscheidungen entstehen ja auf ganz unterschiedlichen Wegen und Motiven heraus. Das Konzil sagt: Christen sind sich oft einig über das Ziel, aber deshalb nicht schon über die Wege und Mittel, es zu erreichen. In den Parteien gibt es diese Vielfalt, ebenso in den Kirchen. Aber niemand kann behaupten, dieses oder jenes Mittel sei vonseiten der Kirche her verbindlich.
Seit 30 Jahren verlieren die Kirchen jedes Jahr 100.000 Mitglieder. Was bedeutet das für die politische Macht der Kirchen, etwa bei der Besetzung von Gremien?
Ich bin nüchtern genug, Verluste zu sehen. Aber ich bin auch ein Mensch, der das Glas halb voll sieht. So arg wenig sind wir eigentlich nicht. Jeden Sonntag sind immer noch mehr Menschen in den Kirchen als auf allen Sportplätzen und Museen zusammen. Wir brauchen nicht den Schwanz einzuziehen. Wir können noch viele Leute ansprechen. Je nach Thema haben wir sehr viele Allianzen mit anderen Menschen oder Organisationen – bis zum Tierschutz.
Aber vom Konzept der Volkskirche müssen Sie sich verabschieden.
Das hängt davon ab, was man unter Volkskirche versteht. Auch wenn wir mal Minderheit sind, sollten wir doch in einer veränderten Weise Volkskirche bleiben – wenn das heißt: Ich ziehe mich nicht sektenhaft in eine Nische zurück, in die Wohligkeit und Geborgenheit einer Gemeinde, sondern ich weiß, dass ich in einer zerrissenen Welt lebe und an ihr nicht vorbeigehen darf. Ich muss meinen Beitrag leisten und mich daran beteiligen, die Wunden zu verbinden. Wir müssen da sein für die Bedrängten und Armen – aber auch für die Reichen.
Das betrifft aber nur den Westen der Republik. Der Osten Deutschlands gilt als das am weitesten entkonfessionalisierte Gebiet Europas. Ihnen fehlt der Drang zur Mission.
Für mich wäre das eines der wichtigsten Themen für den Ökumenischen Kirchentag: der missionarische Aufbruch. Etwa 70 Prozent der Menschen in den neuen Ländern sind mit dem Christentum noch nicht in Kontakt getreten. Aber wir haben einen starken Anstieg der Erwachsenentaufe – überall. Es gibt da viele Worte und Aktionen der beiden Kirchen bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Mir ist das noch zu wenig. Das ist in der Tat eine der Schwächen unserer Kirche. Was hätte Bonifatius getan?
Was müssen die Kirchen tun?
Wir haben eine Stärke, die zugleich eine Schwäche ist. Wir sind in einem Land mit hoher Organisationsdichte eine Institution, die selber viele Möglichkeiten hat, etwa bei Verbänden und bei Mitarbeitern. Aber viel entscheidender ist das Zeugnis des einzelnen Christen. In unserer Gesellschaft braucht die Kirche überall Partisanen. Die Macht des Amtes ist nie ein so langer Arm, dass er überallhin kommt. In Ehe und Familie, in den Freundeskreisen, in Verbänden und am Arbeitsplatz, in der Politik: Wenn da jemand ein Christ vielleicht zunächst eher durch die Tat als durch das Wort ist, dann ist das eine entscheidende Präsenz. Da sind wir nicht so Meister wie bei den Institutionen.
Vielleicht ja auch, weil Heiligenverehrung heute weniger in der Kirche als auf dem Fußballplatz stattfindet.
Wir müssen nicht von den säkularisierten Ersatzprodukten lernen. Wir haben ganz eigenständige Gestalten. Wo gibt es denn jemanden, der so viel Verehrung und Zustimmung bekommen hat wie Mutter Teresa etwa.
Aber dass die Leute jedes Wochenende irgendwohin pilgern, singen und ihren Schal schwenken, das sieht man nicht häufig bei den Kirchen.
Da gehen Sie mal in die großen Wallfahrtsorte. Der Papst hatte beim Weltjugendtreffen in Manila mit 3,6 Millionen Menschen die größte Versammlung, die in der Welt je stattgefunden hat.
Samstag hat Ihr Verein Mainz 05 den Bundesliga-Aufstieg verpasst. Haben Sie für den Aufstieg gebetet?
Ich bete nicht für alle irdischen Dinge. Und ein Spiel ist und bleibt ein Spiel. Aber ich hätte mich gefreut. Vielleicht klappt es beim dritten Mal. Man sagt ja, aller guten Dinge sind drei.