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Archiv-Artikel

Das Unglück des Fortuné

AUS KINSHASA DOMINIC JOHNSON

Er nennt sich Fortuné – der Glückliche. Und tatsächlich sieht der kongolesische Polizist aus wie ein Gewinner. In makelloser blauer Uniform, die schwarze Sonnenbrille am Handgelenk, schlürft er auf der Hotelterrasse sein Bier. Aber seine Augen flackern unstet und herausfordernd. „Ich bin unglücklich!“, ruft er laut auf die obligate Frage nach dem Befinden. „Es geht mir nicht gut. Ich habe kein Geld. Ich bin seit 48 Stunden ununterbrochen im Dienst. Und ich weiß nicht, wie ich meine neun Kinder ernähren soll.“ Fortunés Stimmeist aggressiv, und es scheint nicht ratsam, herauszufinden, ob er gleich in Tränen ausbricht oder einem an die Gurgel springt.

Drinnen, auf der klimatisierten Seite der Terrassentür, sitzt der Mann, den der Unglückliche bewachen soll: Ein Kader der kongolesischen RCD-Rebellion aus dem Osten des Landes, jetzt Teil der Allparteienregierung des Kongo in der Hauptstadt Kinshasa. Hier in dem hohen Saal im Kolonialstil ist der Ton gedämpft, im Schnurren der Klimaanlage bleiben die Gespräche an den großen runden Tischen vertraulich. Es gibt Huhn mit Reis, dazu Rotwein. Das Hotel in der Nähe des Bahnhofs von Kinshasa ist ein Treffpunkt der einheimischen Unternehmerwelt, Absteige für Diplomaten aus Angola und dubiose Diamantenhändler.

Der verblichene Charme der besseren Zeiten hat hier wenigstens noch Spuren hinterlassen. Auf der anderen Straßenseite steht eine Ruine, laut Schild eine Dependance des Landwirtschaftsministeriums. Nachts zeigt eine nackte Glühbirne den noch bewohnbaren Raum an. Der Garten dient einer improvisierten Autowerkstatt als Ersatzteillager. Hinter dem Hotel wird die Straße löchrig und führt in Richtung riesiger Müllberge und verwilderter Parzellen, aus denen ab und zu erschöpfte, verdreckte Gestalten auftauchen; ein offener Wasserhahn dient als öffentliche Badeanstalt.

„Die Leute leben wie die Tiere“, klagt Alafuele Mbuyu Kalala, während er von der Hotelterrasse aus auf die vorbeischleichenden Tagelöhner blickt. Er selbst, ehemals Universitätsdozent, hat die Kurve gekriegt: Nach langen Jahren des Exils in den USA nahm er als Vertreter der Exilopposition an den Kongo-Friedensverhandlungen teil. Heute sitzt er im Parlament, ebenfalls auf Seiten der Opposition.

Mit Entsetzen schaut Kalala auf sein Land, und zwar gar nicht mal wegen des Krieges der letzten Jahre. Sondern wegen der Spuren von dreißig Jahren Niedergang, begonnen während der Mobutu-Diktatur (1965 bis 1997). „1973 wurden Leute ohne jede Erfahrung an die Spitzen der Unternehmen gesetzt, 1974 war Zaire der größte Mercedes-Importeur der Welt“, mokiert sich der Oppositionspolitiker. „Eine Mentalität des Plünderns setzte sich fest. Jedes Jahr wurden die Dinge unmerklich ein bisschen schlechter, bis die Leute nichts mehr dagegen tun konnten.“

Slums und Verzweifelte gab es in Kinshasa, mit über 6 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Afrikas, schon immer. Aber in kaum einer afrikanischen Metropole ist die Verzweiflung so sehr Normalität. In Kinshasa gibt es sogar unter den Straßenhändlern kaum Kinder – der Verdrängungswettbewerb ist zu hart, die Jobs an den heruntergekurbelten Autofenstern haben erwachsene Männer inne, die woanders richtige Arbeit hätten.

Es sind überhaupt wenig Kinder auf Kinshasas Straßen unterwegs; sie erscheinen plötzlich, erst nur zögerlich, dann umso hartnäckiger; immer auf der Hut, immer bereit, sofort wieder abzutauchen. Auch der klapprige Weißhaarige, der beim Betteln mit Nachdruck auf seinen zahnlosen offenen Mund zeigt, scheint der einzige Alte zu sein. Als gäbe es keine mehr.

Wie Inseln des Privilegs ragen inmitten der allgegenwärtigen Not die Machtzentralen auf. Am Boulevard in der Innenstadt, dort wo die Hochhäuser stehen, reihen sich Firmenrepräsentanzen, improvisierte Ministerien und ausländische Vertretungen aneinander – abgeschottet von der normalen Welt durch Pförtner mit imposanten Gästebüchern, vor denen sich eingeschüchterte Bittsteller stauen; Wachleute privater Sicherheitsdienste mit aufgesetzt finsterer Miene, die lässig genehme von unerwünschten Besuchern trennen, und emsige Parkwächter, die inmitten von Bordsteinpfützen die Hierarchie der Autos wahren. In den Vorzimmern der Mächtigen quellen die Terminkalender über, Sekretärinnen eifern zwischen Handy und Bildschirm – im Namen des neuen Kongo.

Aber was hat dieses neue Kongo mit den einfachen Leuten zu tun? Kinshasas Staatsbedienstete, in der neuen Friedensordnung genauso wenig bezahlt wie früher im Krieg, streiken seit zwei Monaten. Die Regierung bietet dem untersten Dienstgrad 30 Dollar im Monat. Die Streikenden fordern 68. 68 Dollar sind nichts in Kinshasa. Der alte Pförtner im Bergbauministerium, der seit 25 Jahren im Dienst ist und die Ruhepausen mit Bibellektüre überbrückt, zahlt täglich umgerechnet knapp 3 Dollar für die Fahrt zur Arbeit und zurück.

Die endlosen löchrigen Straßen aus dem Zentrum in die ausufernden Vororte sind Barometer des Verfalls. Im riesigen Kinshasa funktioniert kein öffentlicher Nahverkehr. Abenteuerlich zerbeulte Kleinbusse verfrachten die Menschen über Distanzen von 30 Kilometern oder mehr. Wenn aus dem Rückfenster nicht mindestens sechs Beine hängen, gilt der Bus nicht als voll, und die Marktfrau mit ihrer sperrigen Plastikschüssel wird zusätzlich hineingestapelt. In Zeitungen wird diskutiert: Darf man im vollen Bus das Baby stillen? Nein, lautet die Mehrheitsmeinung: Das gehört sich nicht.

Um Kinshasa herum sind die Straßen nicht nur schlecht, sondern auch unsicher, so dass die Bauern ihre Produkte nicht mehr in die Stadt bringen. Auf den Märkten kostet ein Kilo des Grundnahrungsmittels Bohnen knapp zwei Dollar. Kongos Hauptstadt steht ständig kurz vor der Hungersnot.

„Alle Bedingungen für einen Volksaufstand sind vorhanden“, behauptet der Abgeordnete Kalala. Aber statt Revolte greift eher Resignation um sich – selbst dort, wo noch ein wenig Mittelklasse sichbar ist, wie in der Wochenendidylle des Stadtviertels Kimbangu, wo Kinder auf lauschigen Sandwegen Fußball spielen. Zwar haben wütende Anwohner hier unlängst Straßenblockaden organisiert, weil ein Gemeindeverantwortlicher Spendengelder für die Reparatur von Schlaglöchern veruntreut hatte. Sie trafen damit nur sich selbst: Der Dieb wohnt woanders.

Eine Straße ist jetzt wieder blockiert, ganz ohne Zutun der Anwohner. Der Regen hat eine Gartenmauer unterspült, und die ist auf die Straße gefallen. Der Hausherr starrt ratlos den Geröllhaufen an.

„Die Leute fühlen sich unterlegen, weil sie so arm sind“, sagt Emmanuel Kabongo. Früher war er Redakteur einer Zeitung, jetzt ist er Chef des politischen Bildungsinstituts UPEC. „Man wacht morgens auf, man weiß nicht, wie man ein Verkehrsmittel findet, etwas zu essen und zu trinken. Da interessiert man sich für nichts anderes mehr. Die Armut zersetzt die Menschen.“ Sie zersetzt die ganze Gesellschaft.

Wenn in der Regenzeit stundenlange sintflutartige Wolkenbrüche und Stürme den Abend zum grandiosen Naturschauspiel machen, mit violetten und orangefarbenen Blitzen über dem Kongofluss, dann löst sich Kinshasa buchstäblich auf. Machtvolle Flüsse zerteilen die Stadt, ganze Viertel geraten landunter, Autos ersaufen auf Hauptstraßen. Und wenn nachts der Regen nachlässt, stehen zwischen den Seen, die einst Straßenkreuzungen waren, Trauben durchweichter, verhärmter Menschen. Sie irren umher wie anderswo Kriegsflüchtlinge zwischen den Fronten. Die Kleinbusbetreiber haben sich längst in Sicherheit gebracht. Manch einer der Gestrandeten wird bis zum nächsten Morgen im Wasser ausharren, bis die heiße Sonne ihr Werk beginnt. Andere werden sich zu Fuß auf die Suche nach einem trockenen Fleckchen Erde machen, auf eines der vielen heruntergerissenen Kabel treten und sich einen tödlichen Stromschlag holen.

Am übernächsten Tag werden die Zeitungen Bilanz ziehen: 15 Tote, ein paar auf immer verschwundene Betrunkene und ein in letzter Minute aus dem Abflussrohr gezogener Leichnam einer abgesoffenen Trauerfeier. Und die Menschen werden sich wieder einmal fragen, wo die Dividende dieses Friedens bleibt, der ihnen Opfer abverlangt wie andernorts nur Krieg.