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Archiv-Artikel

Natürlich geht’s auch anders!

Die Agenda 2010 ist ohne Alternative, heißt es – Löhne und Lohnnebenkosten seien viel zu hoch, ist das Standardargument. Zwei EinsprücheVON HANNES KOCH

Hilfe, Deutschland zittert vor der Globalisierung. In ihren Reden im Bundestag schwingt CDU-Chefin Angela Merkel die Peitsche: Deutschland sei ein Altenheim, alles zu teuer, zu lahm, international nicht konkurrenzfähig. Spätestens seit seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 hat auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verstanden. An seiner Sparpolitik führe kein Weg vorbei, sagt er – die Lage zwinge ihn zu Grausamkeiten.

So ist die Standortdiskussion der 80er-Jahre in neuem Gewand zurückgekehrt. Nun heißt das Angstwort „Globalisierung“. Der Weltmarkt dient als Universalbegründung für die angebliche Notwendigkeit, die Staatsausgaben zu kürzen, die Tarifverträge auszuhöhlen und Teile des Sozialsystems zu privatisieren. Das lässt sich bis zu der Behauptung treiben, die Praxisgebühr von 10 Euro sei eingeführt worden, weil Litauen sonst Deutschland die Arbeitsplätze wegnimmt.

Aber ist der Standort Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wirklich so schlecht? Sicher ist: Die Konkurrenz hat zugenommen, die großen Wohlstandszuwächse finden gegenwärtig nicht in Deutschland, sondern in China, Indien oder Irland statt, und Staaten wie Estland oder Lettland locken die internationalen Investoren mit absurd günstigen Konditionen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass die Bedingungen für Unternehmen in Deutschland tatsächlich so mies sind wie oft behauptet.

Besonders ein Argument der Umverteilungsideologen von Union und SPD erweist sich als wenig tragfähig. Die Arbeitskosten in Deutschland sind nicht gefährlich hoch, der Ansiedlung neuer Stellen sollte damit eigentlich nichts im Weg stehen. Zwar rangiert Deutschland bei den Sozialabgaben und den Löhnen international in der Spitzengruppe, doch ergibt sich ein realistischeres Bild, wenn man die Arbeitskosten ins Verhältnis setzt zur Leistung der Beschäftigten. Diese Größe – in der Ökonomie als „Lohnstückkosten“ bezeichnet – sagt, welche Arbeitskosten bei der Produktion eines Fahrzeugs, einer Mülltonne oder einer Computerfestplatte entstehen. Weil die Produktivität hierzulande aufgrund guter Ausbildung und sozialen Friedens ziemlich hoch ist, liegt Deutschland da gar nicht schlecht.

Nach Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW) sind die deutschen Lohnstückkosten zwischen 1980 und 2001 um jährlich 2,1 Prozent gestiegen – weniger als in vergleichbaren Ländern wie Italien, Norwegen, Großbritannien, Dänemark, Schweden und Kanada. Die deutsche Wirtschaft hat ihre Wettbewerbsposition gegenüber diesen Volkswirtschaften also verbessert. Aber es gibt auch Länder mit einem geringeren Anstieg, darunter Frankreich, die USA, die Niederlande und Japan. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat überdies errechnet, dass die hiesigen Lohnstückkosten seit 95 quasi eingefroren sind – anders als bei wichtigen Konkurrenten: Selbst in den USA und den Niederlanden stiegen die relativen Arbeitskosten bis 2003 stark an.

Der Befund liegt nahe: Im Branchendurchschnitt ist die Arbeit in Deutschland nicht horrend teuer. Natürlich finden Firmen zwischen Polen und Indien immer Orte mit billigerer Arbeit, doch die Auswahl erscheint nicht so gefährlich wie oft suggeriert.

Die Globalisierung sollte umso weniger als Peitsche dienen, als Deutschland bei internationalen Kapitalinvestoren zunehmend beliebter wird. Laut der UN-Organisation für Handel und Entwicklung rückte die Bundesrepublik 2002 auf Platz 4 der Weltrangliste der Länder mit den größten Geldimporten vor. 38 Milliarden Dollar hat das Ausland hierzulande investiert. Auch im Export ist Deutschland nach wie vor erfolgreich. Güter im Wert von rund 130 Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr mehr exportiert als importiert. Eine Volkswirtschaft, die international nicht konkurrenzfähig ist, wäre zu einer solchen Leistung nicht in der Lage.

Woher aber kommen nun das geringe Wachstum und die hohe Arbeitslosigkeit? Selbst konservative Ökonomen wie der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, glauben inzwischen, dass die stagnierende Inlandsnachfrage eine wichtigere Rolle spielen könnte als bisher angenommen. Es wird zu wenig Geld ausgegeben. Kein Wunder, wenn ständig versucht wird, die Kosten der Arbeit zu drücken.

VON ULRIKE HERMANN

Der deutsche Standardspruch lautet inzwischen: „Wir können unseren Sozialstaat nicht mehr finanzieren.“ Schließlich klaffen überall Milliardenlöcher. Da kommt schnell der Gedanke auf, „dass wir über unsere Verhältnisse leben“. Zudem wurde ausgerechnet, dass 1 Prozent höhere Lohnnebenkosten 100.000 Arbeitsplätze vernichtet. Und dann noch die vielen Alten, die von immer weniger Jungen finanziert werden müssen! Die demografische Katastrophe scheint unabwendbar.

Doch ist der Sozialstaat wirklich pleite? Man kann auch optimistisch sein. Das Pro-Kopf-Einkommen wird bis 2030 drastisch steigen, schätzt das Forschungsinstitut Prognos. Fast 40.000 Euro sollen dann für jeden, vom Kind bis zum Greis, zur Verfügung stehen. Momentan sind es 24.400 Euro – und auch das ist ja schon üppig.

Ist vielleicht nur die allgemeine Wahrnehmung falsch? Stets gilt es als Fortschritt, wenn noch mehr Autos verkauft werden. Aber es wird sofort geklagt, wenn die Gesundheitsausgaben steigen. Dabei arbeiten in diesem Boomsektor inzwischen über 4 Millionen Menschen. Sie jedoch gelten als Last, während jeder neue Arbeitsplatz bei einer Billigfluglinie als gesamtgesellschaftlicher Erfolg verbucht wird. Volkswirtschaftlich handelt es sich aber um genau dasselbe: Konsum. Bestimmt könnte der Gesundheitssektor effizienter organisiert werden. So ist es völlig unnötig, dass Krankenhausärzte nochmals alle Untersuchungen der Fach- und Hausärzte wiederholen. Aber punktuelle Rationalisierungsmaßnahmen werden nichts daran ändern, dass eine wohlhabende Gesellschaft dazu neigt, mehr Geld in ihre Gesundheit zu investieren und älter zu werden – eben gerade weil sie es sich leisten kann.

Man kann es auch so sagen: Es gibt kein Finanzproblem, sondern ein Verteilungsproblem. Sozialpolitik ist bezahlbar, aber sie wird falsch organisiert. Seit dem Kaiserreich nämlich sind alle Finanzströme an die Arbeitsplätze gekoppelt. Das schafft zwei Probleme.

Erstens: Immer weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Soziallasten tragen. Denn im langfristigen Trend wächst die Wirtschaft zwar, aber die Produktivität steigt noch schneller. Die Arbeit nimmt relativ ab.

Zweitens: Die Soziallasten werden – anders als die Steuern – nicht progressiv erhoben. Egal, wie viel ein Arbeitnehmer verdient, immer müssen darauf etwa 42 Prozent Sozialabgaben gezahlt werden. Die Regierung hat inzwischen auf ihre Weise reagiert: Die Grenze für die Minijobs wurde auf 400 Euro heraufgesetzt, in einer Gleitzone bis 800 Euro müssen die Arbeitnehmer langsam steigend Abgaben zwischen 4 und 21 Prozent entrichten. Aber das verstärkt den Teufelskreis nur. Die Rentenversicherer schätzen, dass sie allein durch die Minijobs 400 bis 600 Millionen Euro verlieren.

Eine bekannte Lösung heißt Bürgerversicherung. Alle Einkunftsarten, also auch die Kapitalerträge, sollen herangezogen werden, um den Sozialstaat zu finanzieren. Die Idee ist durchaus gut, aber trotzdem nur ein Kompromiss. Denn: Wenn man alle Einkunftsarten belastet, also wie bei der Steuer verfährt, warum erhebt man dann nicht gleich Steuern? Warum beschwert man sich mit einer Parallelveranstaltung namens Bürgerversicherung? Das hat mit der Logik von Macht und Privilegien zu tun.

Zunächst einmal geht es um riesige Apparate, die ihr Überleben sichern wollen: Die Rentenversicherung ist zwar recht übersichtlich auf wenige Träger verteilt – doch bei den Krankenkassen herrscht munteres Durcheinander. Allein bei den gesetzlichen gibt es mehr als 300 und dann noch zahllose private. Und alle haben eigene Verwaltungen, eigene Vertreter, eigene Werbeabteilungen. Die privaten Kassen wollen zudem Gewinn machen. Es scheint ausgeschlossen, diese Apparate entmachten und fusionieren zu können.

Zudem sind Versicherungen ein bequemer Weg, die Solidarität der besser Gestellten aufs Engste zu begrenzen. Denn sie funktionieren nach dem Äquivalenzprinzip. Wer mehr einzahlt, bekommt im Versicherungsfall mehr heraus. Nur bei der Krankenkasse sind die Leistungen für alle gesetzlich Versicherten gleich, ob sie nun wenig oder viel abgeführt haben. Allerdings ist diese Solidarität nicht nach oben offen, sie wird gebremst durch die Beitragsbemessungsgrenze.

Steuern hingegen werden ausschließlich nach Leistungsfähigkeit erhoben – und dazu noch progressiv. Einen Anspruch auf äquivalente Gegenleistung gibt es nicht. Ein solches Sozialstaatsprinzip wäre natürlich unattraktiv für alle, die gute Einkünfte haben. Der so plausible Satz: „Der Sozialstaat ist nicht finanzierbar“, heißt in Wahrheit, dass ihn jene nicht finanzieren wollen, die ihn finanzieren könnten.