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Archiv-Artikel

„Schluss mit Schluss“

Die Gruppe FelS fordert „Berlin umsonst“ – aus Protest gegen Sozialabbau und Sparpläne des Senats. Initative für Berliner Sozialforum speckt erst mal ab. Beide wollen beim SPD-Parteitag demonstrieren

von FELIX LEE

Verwirrt nimmt der ältere Herr das Ticket entgegen: „U-Bahn fahren zum Nulltarif? So etwas hat es vielleicht mal zu Kaisers Zeiten gegeben.“ Nach Fahrtende soll er das Ticket weitergeben. Steht zumindest drauf. Der Mann lächelt, löst aber einen anderen Fahrschein. Einen gültigen. Verblüffend echt sieht das Ticket aus, das Mitglieder der Gruppe FelS (Für eine linke Strömung) seit einigen Wochen vor U-Bahn-Stationen verteilen. Doch dahinter steckt mehr als die Forderung, kostenlos öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.

Es sei nicht ihre Schuld, dass die Bankgesellschaft pleite ist und der Potsdamer Platz fast für umsonst verscherbelt wurde, argumentiert FelS: „Der rot-rote Senat sagt ‚Wir müssen sparen! Schluss mit diesem. Schluss mit jenem‘. Wir sagen: Schluss mit Schluss!“, schreibt sie im Aufruf und fordert: „Berlin umsonst“.

Eine radikale Forderung und unrealistisch dazu – mögen viele denken. Doch die Kampagne zieht. Bei Studentendemos gegen Uni-Kürzungen, bei der Räumung des teilbesetzten Hauses in der Rigaer Straße 94 oder auf Gewerkschaftsdemos am 1. Mai – immer zieht das orange Transparent mit der Südseepalme und der verschnörkelten Unterzeile „Her mit dem schönen Leben“ die Blicke auf sich. Und vermehrt stellen weitere Gruppen ihr politisches Anliegen unter dieses oder ein ähnliches Motto. Nicht nur in Berlin: Auch „Köln umsonst“ und „Freiburg umsonst“ werden bereits propagiert – die Sozialkürzungen laufen bundesweit, die Proteste auch.

Was dieses recht simple Motto so attraktiv macht? So ganz können sich die Initiatoren das auch nicht erklären. Vielleicht liegt es daran, dass sie einen ganz anderen Schlussstrich gezogen haben: Schluss mit der verstaubten Slogandrescherei der Gewerkschaften. Schluss auch mit der abgedroschenen Straßenpolitik linksautonomer Gruppen in Kreuzberg. „Wir müssen eine neue politische Kultur schaffen, die wieder mehr Menschen anspricht“, sagt Jens Sievers, einer der Ideengeber. Er bemüht sich seit Jahren darum, soziale Themen jungen politischen Leuten nahe zu bringen. „Sie fahren nach Genua, Evian und Florenz – aber die Streichung der Arbeitslosenhilfe in Berlin scheint sie nicht zu interessieren“, bedauert Benjamin Sander, der sich ebenfalls der Kampagne angeschlossen hat. Dabei seien sie die Nächsten, die vom Sozialabbau betroffen sein werden.

Schon vor der Umsonst-Kampagne hatten sich Aktivisten zusammengetan, um den Protest gegen den rot-roten Sparsenat zu bündeln. Sozialer Ratschlag nannten sie sich. Aber der Versuch, Kita-Vertreter, Studenten, kritische Gewerkschafter, Arbeitsloseninitiativen und diverse linke Gruppen unter ein Dach zu kriegen, schlug Anfang des Jahres fehl. Es zeigte sich heraus, dass die im Bündnis sitzenden Personen weitgehend sich selbst vertreten. Viele Aktionen mussten mangels Beteiligung abgesagt werden.

Einige Gruppen machten trotzdem weiter. So gibt es nach wie vor das Anti-Hartz-Bündnis, das wegen fortschreitender Entwicklung in der Bundespolitik sich eher in Anti-Agenda 2010 umbenennen sollte. Und das Berliner Sozialforum: In Anlehnung an die Sozialforen in Porto Alegre und Florenz, wo jeweils mehrere hunderttausend Globalisierungskritiker zusammentrafen, gab es im Umfeld des FU-Professor und Daueraktivisten Peter Grottian den Gedanken, diese Großforen auf die Region herunterzubrechen.

Die Idee war gut, doch Berlin noch nicht bereit, urteilt Sander. Seine Kritik: Wieder ein Bündnis, bei dem nicht klar ist, was überhaupt wozu vernetzt werden soll. Die Vertreter des Berliner Sozialforums haben auch schon zurückgeschraubt. Eine für Oktober angestrebte Konferenz soll deutlich abgespeckt werden.

Während beim Berliner Sozialforum noch diskutiert wird, welche Schwerpunkte gesetzt werden sollen, ist die Umsonst-Kampagne längst in Gang: Statt endloser Strukturdebatten macht jeder und jede seine eigene Aktion und stellt sie unter das einheitliche Motto. Letztlich ergänzen sich aber beide Ideen. Etwa beim SPD-Bundesparteitag am Sonntag in Neukölln. Während die Leute des Sozialforums zum Protest gegen die Agenda 2010 mobilisieren, rufen die Aktivisten der Umsonst-Kampagne auf, mit der U-Bahn zur Demo zu fahren – zum Nulltarif.