piwik no script img

Archiv-Artikel

Ich-AG seit 20 Jahren

Zukunft der Arbeit (Teil 3): Verschleiße dich nicht! Denn Old Ecomomy und Normalarbeitsverhältnis sind schon in den Achtzigerjahren gestorben

Gibt es eine Zukunft der Arbeit? Muss es überhaupt eine Zukunft der Arbeit geben? Und was bedeutet Arbeit eigentlich? Die nächsten Folgen unserer Serie zum Thema handeln von Mode, in der man nicht arbeiten und funktional sein kann, und von Klassenunterschieden innerhalb der arbeitslosen Boheme von heute

von ANSGAR WARNER

Eine Rückkehr an die Freie Universität Berlin war ein klarer Fall für die Liebhaber von Mad-Max-Szenarien. Wie ein gestrandeter Öltanker lag die durchlöcherte Dahlemer Rostlaube zwischen den Vorstadtvillen. Unter meinen Füßen knirschte Bauschutt. Irgendwo hinter den Rigipswänden und Plastikvorhängen wummerte ein überdrehter Druckluftkompressor. Fünf nach zwölf zeigten die verblichenen Zeiger einer Wanduhr, die schon Anfang der Neunzigerjahre stehen geblieben war. Auf dem Weg zur Bibliothek passierte ich einige Unipenner, die mich mit ihren rissig verschimmelten Gesichtern anstarrten wie einen Wiedergänger aus der Unterwelt. Einige kamen mir noch aus Studientagen bekannt vor. Ansonsten kannte ich hier freilich niemanden mehr. Was hatte mir mein Prof nach dem Ende des Staatsexamens noch zugerufen: „Verschleißen Sie sich nicht im Schuldienst“!? Der Hörsaal, in dem er kurz darauf seine Abschiedsvorlesung gehalten hatte, ist inzwischen längst abgerissen worden. Immerhin habe ich seinen Rat befolgt und promoviere nun über das Thema „Hybride Literaturgattungen der frühen Nachkriegszeit“.

Neulich habe ich meinen Eltern erzählt, dass ich nun nach Schul- und Hochschulausbildung noch ein paar Jahre der dritten Ausbildungsphase verbringen muss. Natürlich kam daraufhin die stereotype Frage: „Ja, willst du nicht endlich auch mal arbeiten!?“ Viele Menschen aus dieser Generation hängen offenbar noch solchen romantischen Vorstellungen von Normalarbeitsverhältnissen nach, mit sechzehn Schulabschluss, vierzig Jahre im selben Betrieb arbeiten und dann Frühverrentung. Das ist schon erstaunlich. Die Arbeitsgesellschaft war schließlich bereits in den Achtzigerjahren komplett zerrüttet. Dass damals Jugendliche überhaupt noch Berufswünsche geäußert haben sollen, kann man getrost unter der Rubrik biografische Legenden verbuchen. Meine weisere Oma zum Beispiel fragte mich immer nur: „Hast du dir schon überlegt, ob du später mal rauchen willst!?“

Bereits damals hegte ich den Verdacht, dass auch das Kapital gar keine Verwertungsinteressen mehr an der Arbeitnehmerleistung haben konnte. Warum sonst versuchte man in der alten Bundesrepublik in so genannten „Berufsinformationszentren“, ganze Schulklassen davon zu überzeugen, komplett unsinnige und unproduktive, aber zugleich hochbezahlte Professionen wie Logopäde, Landschaftsplaner oder Laryngologe zu erlernen? Es gab allerdings auch einen ganz konkreten Grund, warum sich für mich der Wert der Ware Arbeitskraft längst in abstrakte Rechengrößen verflüchtigt hatte. Mein Vater schenkte mir zum Geburtstag immer nur zehn Mark. „Man sagt ja, die Nullen hinter der eins sind nichts wert!“, lachte er dann dabei. 1980 schrieb ich sogar mit einer geliehenen Schreibmaschine ein Gesuch an meine Eltern, in dem es um eine Taschengelderhöhung um zehn Pfennig pro Woche ging. Einen Betriebsrat gab es ja für mich nicht. Als Einzelkind war ich schon vor 20 Jahren eine Ich-AG. Also von wegen „Gewerkschaftsstaat“!

Ich weiß gar nicht, wie viele Milliarden Euro die Arbeitgeber inzwischen ausgegeben haben, um dieses Desinformationsgespinst in die Hirnwindungen leichtgläubiger Menschen einzubimsen. Mein Gesuch auf Taschengelderhöhung wurde natürlich abgelehnt: „Wegen der angespannten Marktlage nicht finanzierbar!“ Dazu bekam ich den wohlfeilen Ratschlag, meine Produktivität zu erhöhen und neue Geschäftsfelder zu erschließen, anstatt immer nur Subventionen zu fordern. Die letzten Zweifel am unwideruflichen Ende der gemütlichen Old Economy verließen mich dann kurz nach dem Mauerfall. Bill Clinton hatte gerade am Brandenburger Tor „Berlin is free! Alles ist möglich!“ ausgerufen, da besuchte mich T., der gerade sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Wir gingen Abschläge üben auf einer Driving Range, in die investitionsfreudige Golfenthusiasten ein stillgelegtes Treptower Fabrikgelände umgewandelt hatten.

Dabei erzählte mir T. von seiner Karriereplanung: „Ich sag’ nur: Sportmedizin! Das Ärzte-Eldorado der Zukunft!“ Schließlich sei die Zahl der Industriearbeitsplätze inzwischen so weit geschrumpft, dass es im Berufsalltag überhaupt keine interessanten Verletzungen mehr gebe: „Gut, die Hand aus Versehen am Schreibtisch festgetackert, das passiert öfter mal. Aber wer zieht sich schon im Büro schwere Amputationsverletzungen zu oder bricht sich kompliziert das Rückgrat!?“ Da kämen eben die neuen Extremsportarten ins Spiel, denn die würden den Verlust an qualitativ hochwertigen Verletzungen wieder kompensieren. Und so schließt sich der berufliche Kreislauf, denn: „Chirurgie kann alles!“ Als T. dann auch noch mit einem Skalpell meinen Fernseher bei laufendem Betrieb repariert hatte, fragte ich mich, ob ich wirklich ein Fach mit Zukunft gewählt hatte. Aber T. hatte wie immer ein paar aufmunternde Worte parat: „Sieh es doch mal so: Du hast in zehn Jahren Studium in der Rost- und Silberlaube mehr Asbestfasern geschluckt als ein Arbeiter in einer Zementfabrik während seines ganzen Lebens! Das kann in Zukunft kein normaler Arbeitnehmer mehr toppen!“