: Bling-Bling und Bum-Bum
Räudiger Bruder des HipHop: Dancehall aus Jamaika galt im Westen lange nur als Nische für Macho-Fantasien. Mit dem Erfolg von Sean Paul ist daraus der Konsenssound für diesen Sommer geworden
von JONATHAN FISCHER
Sean Paul drückte noch die Schulbank im Villenviertel Uptown Kingston, als in den benachbarten Ghettos die digitalen Rhythmen der Sound Systems alles hinwegfegten, was man im Westen bisher mit Reggae assoziert hatte. „Die für den internationalen Markt produzierten Beschwörungen von Jah Kingdom hatten Ende der Siebzigerjahre kaum noch etwas mit der Situation im Hüttenmeer von Trenchtown zu tun“, erklärt der gerade zum internationalen Dancehall-Star aufgestiegene Sean Paul.
Stattdessen sprangen auf Jamaika musikalisch unvorbelastete Geschäftshaie in die Bresche. Sie investierten ihre Drogendollars in Keyboards und Drum-Machines, riefen nach dem do it yourself-Prinzip den jamaikanischen Punk aus und favorisierten die so martialische wie machistische Guns-and-Girls-Rhetorik. In einem Land ohne Tantiemen und Copyrights waren die Deejays mehr oder minder austauschbar. Dafür setzten die Produzenten einmal populär gewordene Backgroundtracks oder Riddims immer wieder neuen Vokalisten vor – oft hundertfach, mit nur geringfügigen musikalischen Veränderungen.
Versioning heißt dieses Prinzip, und auch der mittlerweile erwachsene Sean Paul reitet auf seinem aktuellen Album „Dutty Rock“ über viel geliebte und genutzte Riddims. Glaubt man ihm, spucken die Kingstoner Studios bis heute Monat für Monat etwa dreihundert neue Songs aus – meist Vinyl-Singles, die nach ein paar Wochen Dancehall-Aufmerksamkeit dem ewigen Vergessen anheim gegeben sind. Der Weg von der örtlichen Vinylpresse in die westlichen CD-Charts dagegen ist weit. Warum aber ist nun ausgerechnet dem ehemaligen Nationalschwimmer aus dem wohlhabenden Uptown-Viertel von Kingston vergönnt, worauf die meisten seiner Ghetto-Kollegen bisher vergeblich hofften? Und was bedeutet Sean Pauls Erfolg für die Zukunft des Genres?
MTV im Herbst 2002: „Gimme the light and pass the dro-ho-ho / buss another bakkle of Moe … “ Einige Zuschauer mögen erstmals gestutzt haben: Weder Limousinen, Champagner noch die üblichen Millionen-Dollar-Party-Kulissen in Sicht. Ein hellhäutiger Typ in Jeans und rotem Bandana wiegt sich im Rhythmus seiner Patois-Verse, begleitet nur von einer Hand voll Tänzerinnen. Billiger lässt sich kein Musik-Clip produzieren.
Sean Pauls Plattenfirma, ein auf jamaikanische Lizenzen spezialisiertes Indie-Label in New Yorker, hatte das Video in letzter Minute nachgeschoben, als „Gimme The Light“ bereits auf dem Weg in die Top Ten war. Seit zwei Jahrzehnten beschwören die großen Plattenfirmen immer wieder das angebliche kommerzielle Potential der kantigen karibischen Partymusik – und nun überrollte sie ein weltweiter Millionenhit fast ohne jede Promotion. Die Nachfolge-Single „Get Busy“, gegenwärtig Nummer eins der US-Charts, wird jamaikanische Patois-Gesänge wohl auch hierzulande zum Soundtrack dieses Sommers machen. „Dancehall“, so der jamaikanische Nachwuchsstar am Telefon aus Los Angeles, kurz vor einem Auftritt bei der Jay Leno Show, „ist der Sohn von Reggae, der kleine Bruder von HipHop“.
Verwandtschaftsbeziehungen, die sich seit kurzem auch auf MTV nachvollziehen lassen: Da tanzen Missy Elliott, Janet Jackson und Gwen Stefani von No Doubt zu Rhythmen aus Kingston, jamaikanische Stars wie Beenie Man, Bounty Killer und Lady Saw im Schlepptau; populäre HipHop-Produzenten wie Timbaland und die Neptunes füttern ihre Hitmaschinen mit Beats, die deutlich vom Dancehall inspiriert sind. Sollte Musik aus Kingston – ein Vierteljahrhundert nach Bob Marleys weltweitem „One Love“-Siegeszug – noch einmal das internationale Popgeschäft revolutionieren?
Wollten Dancehall-Musiker bislang außerhalb der Karibik Gehör finden, mussten sie wie Shaggy in die Vereinigten Staaten ziehen oder sich zumindest den dortigen Hörgewohnheiten unterwerfen. Sean Pauls Hitsingles dagegen wurden komplett in Kingston produziert. „Wir müssen endlich zu der Musik stehen, die wir daheim hören“, sagt der 30-Jährige, der sich zuvor als Gastvokalist amerikanischer HipHop-Größen einen Namen gemacht hat. Sean Pauls melodische Refrains erreichen offenbar ein Publikum, das sich vorher von dem oft disharmonischen Geknatter vieler Dancehall-Produktionen verschrecken ließ. Es komme auf die Hooklines an, meint der wortgewandte und jede Antwort mit einem höflichen „Sir“ einleitende Deejay. Und: Fluchfreie Texte, clean lyrics. „Ich rede vielleicht davon, mit einer Dame Sex zu haben. Aber du wirst nicht das Wörtchen fuck aus meinem Mund hören“, sagt der Saubermann.
Das mag gerade angesichts des Dancehall-Trends auf Jamaika, immer krassere Texte im thematischen Dreieck von Schwulenhetze, Genitalprotzereien und Gewaltandrohungen zu produzieren, verblüffen. Doch Sean Paul verweist auf den Kontext. Im Westen habe man die Musik seiner Heimat meist unabhängig von deren Entstehungsbedingungen rezipiert. Während sich Teenager seit den Siebzigerjahren weltweit mit den „Exodus“-Lyrics dreadlockbezopfter Rebellen identifizierten, hätten jamaikanische Politiker Containerladungen von Gewehren ins Ghetto geschickt, um ihre Anhänger zu bewaffnen und Straßenkrieg zu führen. „Das ganze Land verkam zu einer einzigen Räuberhöhle. Ein Großteil der Leute wuchs mit der alltäglichen Gewalt auf. Sie ist ein Teil unserer Psyche geworden – und das spiegelt sich auch in der Musik“.
Wenn Dancehall – vor allem im Vergleich mit dem beinahe zeitgleich in New York entstandenen HipHop – so lange ein Mauerblümchen blieb, mag das auch an einer dem westlichen Popdiskurs und seiner Aufklärungs-Ethik schwer zugänglichen Thematik liegen: Bling-Bling und Bum-Bum, Materialismus und Gewalt. Dass eine Reihe wiederbekehrter Rastas wie Buju Banton, Capleton oder Sizzla neuerdings spirituelle Werte predigen, hat Dancehall zwar bereichert, seinen aggressiven Grundton allerdings kaum verändert. „When I talk about a gun / it is a lyrical gun … / for the people to have fun“, hatte Shabba Ranks einst getönt.
Die jamaikanische Literaturprofessorin Dr. Carolyn Cooper unterstützt Sean Pauls Sicht. Sie deutet in ihrem Buch „Noises In The Blood“ das Gangster- und Macho-Gehabe vieler Dancehall-Musiker als metaphorischen Ausdruck von Unterschichts-Wut. Deren Zoten stellten „eine Revolte gegen das Gesetz dar, ein Unterminieren gesellschaftlich vereinbarter Anstandsnormen“. Gleichzeitig griffen sie auf mediale Klischees zurück, so Cooper. Spaghetti-Western etwa sollen schon immer großen Einfluss auf die jamaikanische Musik gehabt haben. Noch heute würden die internationalen Filmvertriebe regelmäßig ihren Billigschund auf Überseemärkten wie Jamaika abladen. Tatsächlich verwischt auch in den gewalttätigen Deejay-Fehden oder in spektakulären Inszenierungen – etwa Ninjamans bühnenwirksamer Aushändigung seiner geladenen Waffe an einen Polizisten – immer wieder die Grenze zwischen realem Bodensatz und Fantasie.
Die Verstrickung in den selbst geschaffenen Mikrokosmos jedoch schadete den internationalen Ambitionen von Dancehall. Erst recht nach der Ermordung der nordamerikanischen Rapper Tupac und Biggie war man der Fehden im Musik-Business müde: Wer wollte da noch so genau wissen, was Elephant Man gegen Merciless hat, wie sich Cobra und Mr. Lex bekriegen und warum Beenie Man Bounty Killer für schwul erklärt, worauf Letzterer die halbe Konkurrenz beleidigte?
Auch Sean Paul ist kürzlich Opfer eines Schmähsongs geworden. Er traue sich als Uptown-Kid nicht in die Ghettos, spottete ein Konkurrent kürzlich. „Wenn jemandes Absatzzahlen sinken, muss er öffentlich einen Streit mit einem erfolgreicheren Deejay vom Zaun brechen“, sagt Sean Paul und klingt ein wenig verbittert. Schließlich habe er sich immer mit den Anliegen der Unterprivilegierten identifiziert – auch wenn ihn die Produzenten bei seinem ersten Studiotermin auslachten: Warum wollte ausgerechnet ein studierter Hotelmanager wie er sozialkritische Verse zum Besten geben? Sein gutes Aussehen und erste Erfolge mit Girls-Songs prädestinierten ihn für eine andere Nische: den mal launigen, mal verständnisvollen „Ladies’ Man“. Einer, der Frauen in Ehren hält, es wagt, zur Treue aufzurufen, und dabei noch sexy klingt.
Sean Paul entschloss sich, diesen Part zu spielen, ernsthaftere lyrische Ambitionen wurden erst einmal aufgeschoben: „Ja, ich gehe auf Partys und trinke Moet und rauche Marihuana und schaue mir die Frauen an und nehme vielleicht eine mit aufs Hotelzimmer. Großartig. Aber glauben die Produzenten, dass ich, nur weil es sich verkauft, bis an mein Lebensende von baby girl singen werde?“ Er habe da gerade einen Song über den sublimen Rassismus auf Jamaika geschrieben. Seine Singstimme transportiert auch über tausend Kilometer Telefonkabel hinweg noch seinen Ernst: „I wanna see a day when the color of your skin / and the origin of your kin / not gonna matter …“ Würde er jeden Tag nur Partymusik machen, so Sean Paul, kämen auch bei ihm ganz schnell Depressionen.
Zudem habe sich die Not der Bewohner seiner wirtschaftlich maroden Heimat noch verschärft. „In Jamaika gleicht Dancehall dem Gang zur Kirche. Für viele ist es die einzige Zeit, um glücklich zu sein. Sie haben im Ghetto kein Kabelfernsehen. Viele geben ihren letzten Cent für den Eintritt zur Dancehall, ohne sich auch nur einen Drink leisten zu können. Der Mann an den Plattenspielern erzählt zwischen den Nummern Geschichten, kommentiert die Songs und gibt positive Botschaften aus.“ Nimmt man dazu die Wirkung der Bässe, die geballte Energie der Stakkato-Rhythmen, wird realem Leiden hier eine vitalistische Liturgie entgegengestellt.
Hatte man im Westen bisher vor allem die Aggression der Musik wahrgenommen, könnte sich das mit Sean Pauls Erfolg bald ändern. Geht es nach den Gesetzen der US-Plattenindustrie, wird Dancehall bald in der ersten Pop-Liga spielen. In einem Wettbieten um die Albumrechte an Sean Pauls „Dutty Rock“ machte letztlich Atlantic Records das Rennen. Der New Yorker Marktriese hat sich für die kommenden zwei Jahre alle Optionen auf Übernahmen aus dem VP-Repertoire erkauft und will nun Millionen von Dollars in Dancehall-Musiker investieren. Das bedeutet, neben besserer Promotion und einem weltweiten Vertrieb, auch kostenaufwändige, von Star-Regisseuren gedrehte Videos. Andererseits: Die gegenwärtige ästhetische und kommerzielle Krise des HipHop sollte als Warnung dienen – zu viel Erfolgsgewissheit kann schlapp machen.
Mike Tyson hat einmal seine Motivation als Boxer in wenige Worte gefasst: „die Angst in Feuer verwandeln“. Das könnte auch das Erfolgsgeheimnis der Underdog-Musik Dancehall sein.
Sean Paul: „Dutty Rock“ (Atlantic/Eastwest); Diverse: „The Biggest Dancehall Anthems 1979–82“ (Greensleeves/Zomba); Sizzla: Ghetto Revolution (Greensleeves/Zomba); Diverse: „Ragga, Ragga, Ragga! (Greensleeves/Zomba)“; Bounty Killer: „My Xperience“ (VP Records)