: Gesucht: Eine Stadt der Ideen
AUS HELSINKI SABINE HERRE
Die University of Helsinki hat ein Problem: zu wenige ausländische Studenten und Wissenschaftler. So heißt es in der aktuellen Ausgabe der Unizeitung: „Früher gab es für einen ausländischen Forscher nur einen Grund, hierher zu kommen, die Liebe zu einer Finnin. Jetzt ist es an der Zeit, andere Gründe für einen Aufenthalt in Helsinki zu finden.“
Aber ansonsten hat Helsinki eigentlich kein Problem. Finnland ist Nummer eins im Informations- und Technologiesektor, Nummer eins bei der Wettbewerbsfähigkeit. Noch vor den USA, so der jüngste Bericht des Weltwirtschaftsforums. 10 Prozent der Biotechnologiefirmen der ganzen Welt haben ihren Sitz in dem 5-Millionen-Einwohnerland im Norden Europas. Seit 1995 werden in Helsinki pro Jahr 4 Prozent neue Arbeitsplätze geschaffen. Nur zum Vergleich: In Berlin ging in derselben Zeit die Zahl der Arbeitsstellen jedes Jahr um fast ein Prozent zurück.
Was aber macht Finnland anders als Deutschland? Was sind die Gründe für das finnische „Wirtschaftswunder“, wie es die Finnen selbst nennen? Liegt es wirklich allein daran, dass sie – auch dies eine Selbsteinschätzung – „hart arbeitende Menschen“ sind?
Methode Networking
Der finnische Erfolg hat einen Namen und er hat eine Methode. Diese heißen Nokia und Networking. Und er hat seine Ursache, die sich auf den einfachen Nenner Russland und Rezession bringen lassen. Als zu Beginn der 90er-Jahre die Sowjetunion und mit ihr der Hauptabsatzmarkt der finnischen Industrie zusammenbrachen, stürzte das Land in seine bisher tiefste ökonomische Krise. Die Arbeitslosigkeit in Helsinki stieg auf bis zu 20 Prozent, mehr waren es in keinem anderen OECD-Land. Auch damals war Finnland Spitze.
Die Krise hat sich tief ins Bewusstsein der Finnen eingegraben. „So etwas möchte ich nie mehr erleben“, sagen viele. Unzählige verließen das Land Richtung Süden. Die Regierung aber beschloss eine grundsätzliche Neuorientierung der Wirtschaft. Finnland und vor allem seine Hauptstadt Helsinki sollten zu einem Zentrum von Forschung und Technologie werden. 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden inzwischen für die Wissenschaft ausgegeben, nur Israel und Schweden tun mehr für Forschung und Entwicklung. Ziel der EU ist es, dass 2010 rund 3 Prozent des BIP in die Wissenschaft fließen.
Doch die Stadt Helsinki ging noch einen Schritt weiter. Wissenschaftler, Unternehmen und Politiker beschlossen Mitte der 90er die Gründung einer „Ideopolis“ – einer „Stadt der Ideen“. Ihre besondere Qualität sollte nicht nur die permanente Innovation ausmachen, sondern auch Spitzenleistungen in Kultur und Freizeit. Das nur 560.000 Einwohner zählende und eher wie eine Provinzmetropole wirkende Helsinki schien mit seiner Lage am finnischen Meerbusen dafür die denkbar günstigsten Voraussetzungen zu bieten.
Gummistiefel von Nokia
Zu Beginn der 90er-Jahre hatte sich auch Nokia in einer tiefen Krise befunden. Der heutige Mobilfunkgigant produzierte von Gummistiefeln über Kabel und Fernseher so ziemlich alles und sollte für eine Finnmark an Ericsson verkauft werden. Doch die Schweden lehnten ab. Und so begann man bei Nokia sich auf das zu konzentrieren, was man bereits seit Jahren für das finnische Militär getan hatte: die mobile Kommunikation. 460 Beschäftigte hatte Nokia zu Beginn der 70er im Elektronikbereich, heute sind es 53.000, ein Drittel davon in Forschung und Entwicklung.
„Ohne staatliche Unterstützung hätten die Mobilfunker dies freilich nie geschafft“, sagt Nyrki Tuominen, Direktor der städtischen Wirtschaftsförderung. Tatsächlich ist Nokia die Firma, die am meisten vom so genannten „finnischen Modell“ profitierte. Der Staat unterstützt die Wirtschaft mit zahlreichen öffentlichen Einrichtungen und viel Geld bei der Entwicklung neuer Produkte. Der „normale“ Finne finanziert dies mit einem Steuersatz, der der dritthöchste in der EU ist und in der Spitze bei 60 Prozent liegt.
Die wohl wichtigste dieser öffentlichen Einrichtungen liegt am westlichen Rand Helsinkis, in Espoo, und trägt den programmatischen Namen Culminatum. In Büros, die kaum größer als zehn Quadratmeter sind, sitzen die Gründer jener Start-ups, die für besonders zukunftsträchtig gelten. Nano-, Bio- und Gentechnologie natürlich, aber auch neue Medien und Design. Bei Culminatum, zu je einem Drittel von der öffentlichen Hand, den Universitäten und der Wirtschaft finanziert, sieht man sich als Networker, die die Verbindung zwischen Wissenschaft und Unternehmen herstellen. Geschaffen wurde dafür ein west-östlicher „Innovationskorridor“, der sich auf einer Länge von 30 Kilometer quer durch die Region Helsinki zieht: „Businessparks“ wurden in unmittelbarer Nähe zu Universitäten und Hochschulen errichtet. Öffentliche Verkehrsmittel sichern eine schnelle Verbindung zwischen den Institutionen. „Networking“, sagt Culminatums Managing Director Eero Holstilla, „das ist in einem so kleinen Land wie Finnland nicht besonders schwer. Hier kennt jeder jeden.“
Ein weiterer Grund für den Erfolg Helsinkis hat mit dem finnischen Sozialstaatsmodell zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Bildungssystem demokratisiert. Jeder hat die Möglichkeit zu kostenloser Ausbildung, über 40 Prozent haben einen Hochschulabschluss, und so würde es den Finnen nie einfallen, von „Elite“ zu sprechen.
Fischerlizenz per Handy
Und auch der Begriff „creativ class“ ist nicht besonders beliebt. Dabei hat man in Helsinki den Eindruck, sich ständig in einem kreativen Laboratorium zu bewegen. In der Fachhochschule Stadia zum Beispiel werden völlig neue Möglichkeiten der drahtlosen Kommunikation entwickelt. Medizinische Daten bei Krankheiten wie Diabetes oder Asthma können über Handy von Privatwohnungen zu Ärzten und Krankenhäusern übermittelt werden. Mobiltelefone mit Kamera halten Familien über den Zustand kranker Kinder oder Großeltern auf dem Laufenden. Überhaupt das Handy: Man kann damit Bustickets und Parkplatzgebühren ebenso zahlen wie Erfrischungsgetränke an speziellen Kiosken. Gerade eingeführt wurde die erste mobile Fischerlizenz. Praktisch, wenn man sich an einem einsamen See im Norden Finnlands befindet.
Weitere Projekte sind „lebenslanges Lernen“ und natürlich auch eine „Virtual University“. Kaum eine Rolle spielen dagegen die Sozialwissenschaften. An der University of Helsinki sind dafür gerade einmal 4.700 von 37.700 Studenten eingeschrieben. Lediglich für Soziologen gibt es im Rahmen der Diskussion über die Stadtentwicklung Helsinkis einige lukrative Forschungsprojekte.
Eine wichtige Rolle spielt dagegen weiterhin die traditionelle Industrie Finnlands: Holz und Papier. Schließlich ist das Unternehmen Stora Enso mit seinen weltweit 42.500 Beschäftigten Nummer eins in Europa. Auch Unternehmen dieser Größenordnung profitieren vom finnischen Modell. Die Grundlagenforschung lässt man sich gern vom Staat bezahlen. Die Arbeit an zukunftsträchtigen Produkten – wie etwa neue Verpackungsmaterialien – findet in den eigenen Labors statt.
Gibt es also gar nichts, was den Höhenflug Helsinkis bremst? Doch. Viele Ökonomen und Wissenschaftler sind inzwischen der Ansicht, dass die Abhängigkeit des Landes von Nokia zu groß geworden ist. Einer OECD-Studie zufolge übernimmt der Mobilfunkgigant rund die Hälfte aller Absolventen der Technischen Hochschule Helsinkis. Und hier liegt dann das zweite Problem. Für die Verwirklichung der Ideopolis gibt es zu wenig Wissenschaftler und Forscher, zu wenig gut ausgebildete Finnen.
Natürlich könnten diese aus dem Norden des 5-Millionen-Einwohnerlandes kommen, doch schon jetzt ist die Region Helsinki mit ihren 1,2 Millionen Einwohnern zum Wasserkopf geworden, zieht Misstrauen und Neid auf sich. Nachgedacht wird außerdem über Fortbildungsmaßnahmen für jene 9 Prozent der Bevölkerung, die nach der Krise zu Beginn der 90er noch immer keine neue Arbeit gefunden haben. Doch 50-jährige Langzeitarbeitslose sind eben auch in der Boomtown Helsinki nur schwer zu vermitteln.
6,1 Grad Celsius
Und so setzen Stadt und Universität verstärkt auf internationale Zusammenarbeit. Entwickelt wurde der „International Action Plan“: Im August 2005 sollen die europaweit gültigen Hochschulabschlüsse „Bachelor“ und „Master“ eingeführt werden. 4.000 ausländische Studenten leben heute in Helsinki. 2015 sollen es 15.000 sein.
Dass das nicht einfach sein wird, weiß man auch an der University of Helsinki. Hohe Steuern und Lebenshaltungskosten sowie die komplizierte finnische Sprache sind nicht gerade ein Anziehungspunkt. Und selbst so scheinbar Banales wie das Klima verringern die Attraktivität: Die jährliche Durchschnittstemperatur liegt bei nur 6,1 Grad.
Viel wichtiger aber ist, dass kaum 1,5 Fährstunden von Helsinki entfernt ein mächtiger Konkurrent heranwächst: Estland und besonders seine Hauptstadt Tallinn gelten als das Technologiezentrum des Ostens, und so lockt es mit seinen niedrigen Löhnen und Steuern längst nicht mehr nur Produktionsstätten „alter“ Industriezweige. Immer öfter verlegen westliche Firmen selbst Forschungseinrichtungen ostwärts.
Sind die baltischen Staaten erst einmal Mitglied der EU, wird das finnische Steuersystem unter Druck geraten. Bereits gesenkt wurden die Alkoholsteuern, weitere Reformen dürften folgen. „Dann jedoch“, so Kari Raivio, Kanzler der University of Helsinki, „wird es wohl vorbei sein mit der großzügigen staatlichen Unterstützung von Forschung und Wissenschaft.“ Und dann könnte auch das finnische Modell vor dem Aus stehen.