Hennings heiliger Hintersinn

Der Gewählte ist vom Rad herab gestiegen und predigt den Gläubigen in Berlin – über eine der politischsten Passagen der Bibel: Jakobs zähe Koalitionsverhandlungen mit Gott (Gen. 32, 23-32)

Bremens Kulturleben hat Höhepunkte, von denen die Hansestädter selbst nichts erfahren. Zu ihnen darf der gestrige Auftritt des Bürgermeisters Henning Scherf in den Berliner Messehallen gezählt werden. Von 9 bis 10 Uhr predigte der Senatspräsident im Rahmen des Ökumenischen Kirchentages.

Das Thema, das die Vorsehung ihm mitten in den Koalitionsverhandlungen zugeschustert hat: Jakobs zähes Ringen mit Gott. Inhalt der Erzählung: Jakob, von fast allen Anhängern verlassen, begegnet dem Allmächtigen. Dieser umarmt ihn, bis ihn Jakob, reichlich lädiert, um den Segen – das ist die Macht – bittet. Geschildert im ersten Buch Mose, Kapitel 32, Vers 23 bis 32 , gilt die Passage als eine der politischsten der Heiligen Schrift.

Bei der Predigt muss es sich um eine atemberaubende Neudeutung der Stelle gehandelt haben: Zwar liegt das Originaldokument nicht vor. Anders als üblich hat der Bremer Bürgermeister laut Kirchentagspressestelle „seine Bibelarbeit nicht eingereicht.“ In der Senatskanzlei gibt man sich unwissend. Augenzeugenberichte jedoch gewähren Einblick in die Scherfsche Exegese: Der Landeschef habe, so die Kolporteure, gefragt: „Mit wem sollen wir uns in dieser Erzählung identifizieren?“ Eine Provokation: Die Bibelstelle weist nur zwei handelnde Figuren auf – Jakob und Gott. Die gängige Exegese, so Scherf, beziehe sich auf Jakob. Wer aber wolle sich wirklich mit dieser dunklen, ja schwarzen Figur vergleichen? Es gebe jedochauch andere Herangehensweisen. Er denke dabei an den Worpsweder Rainer Maria Rilke: „So wie Jakob mit dem Engel rang“, hatte der einst gedichtet, „Ringt der Bierbauch mit dem Sonnen-Riesen.“

An dieser Stelle vermelden die Befragten den Zwischenruf: „Weinstock, nicht Bierbauch!“ Zeugin Walburga D. aus Darmstadt: „Der kam ausgerechnet von dem einzigen Mann in der Halle – obwohl doch gerade Frauen Rilke schätzen“. Der interessante Vortrag habe tatsächlich öfters unter Konzentrationsmängeln gelitten: So wurden offenbar vermehrt Eigennamen verwechselt. „In der ganzen Bibel kommt kein Hartmut vor!“, beschwerten sich mehrere Betschwestern.

„Wir sind jedenfalls aufgerufen, Gott möglichst gleich zu werden“, wird Scherf zitiert. In diesem Sinne könne der Text auch heute noch als Unterweisung verstanden werden: „Himmlisch“ sei „die Strategie der Umarmung, auf die der unterlegene Gegner nur mit Umklammerung“ reagieren könne. Dazu brauche man nur Stehvermögen und so lange Arme wie ER, Gott. Ganz ähnlich habe das der Schweizer Theologe Karl Barth gesehen: „Gott oder Ich, das ist jetzt die Frage“, so dessen einschlägige Predigt. Nur: Barth hatte eben kürzere Arme.

Mit ihm ließe sich denn auch folgern, dass man „dem Jakob oder dem Hartmut oder von mir aus eben auch dem Jens“ einfach nur sein „Ich wünsche, Ich bin, Ich finde“ lassen müsse. Gott zwinge die Menschen „nicht mit Feuer und Schwert zu seinen Sklaven“ soll Scherf weiter zitiert haben. Er wolle zwar Gehorsam. Doch der „muss Freiheit sein – oder so aussehen.“ Genauso habe „ein guter Christenmensch“ mit „Verhandlungspartnern zu verfahren“. Benno Schirrmeister