Fremde Freunde

Breite Seelen, schöne Landschaften und viel Sehnsucht ist auch immer mit dabei: „Dorogi – Unterwegs“, ein Reisefilm von Marat Magambetow

Wege sind ein schönes Thema. Den vernünftigen Menschen führen sie von A nach B, und dazwischen ist nur die Mühe, die minimiert werden soll. Die langsamen Wege sollen weg, dafür ist Stolpe zuständig, niemand will mehr die Arbeit des Reisens auf sich nehmen und am liebsten würden sich die Leute von A nach B beamen. Die unmittelbare Wunscherfüllung ist das Ziel aller Technik – und am Ende wären A und B miteinander identisch, wie bei Fußballern oder Stadionrockern, die von Stadion zu Stadion reisen. Abenteurer, Romantiker und andere Sensualisten wollen dagegen einfach nur unterwegs sein und darauf hoffen, sich im Fremd- und Dazwischensein zu erneuern. Sie vertrauen sich den Zufälligkeiten des Reisens an und freuen sich über Unterbechungen.

Der in Kasachstan gebürtige, in Leipzig lebende Filmemacher Marat Magambetow ist ein romantisch Reisender. Für seinen größtenteils in einem schönen, an die große Zeit des Neorealismus erinnernden Schwarzweiß gedrehten Film „Dorugi – Unterwegs“ fuhr er von St. Petersburg nach Moskau. Vieles ist ländlich. Zwischendurch zitieren zwei kleine Farbsequenzen Tarkowskis „Der Spiegel“. Unverbogene russische Provinzmenschen erzählen schöne Geschichten von einer Art, wie man sie in einem russischen Reisefilm erwartet. Es geht u. a. um ein Haus, in dem es spukte und wie man die Gespenster wieder weggekriegt hat, es geht um Gott logischerweise, ein zerfurchter Gottesfreund erklärt im Sinne eines tolstoischen Anarchismus, weshalb der Staat und seine Gesetze gotteslästerlich sind, und es geht natürlich auch um die Liebe.

Drei ältere Frauen sitzen sehr russisch auf einer Bank in der Einöde und berichten in heiterer Gleichmut von erstaunlichen und anrührenden Schicksalen. Irgendwie meint man, diese oder ähnliche Frauen schon einmal zum Beispiel in einem der locker dokumentarischen russischen Provinzfilme von S. Losnitza gesehen zu haben. Dem Fremden erscheine der Blick von außen „klarer und unmittelbarer, denn ihm fehlt die innere Vorkenntnis, das emotionale Einbezogensein“, schreibt der Regisseur, und dass der Fremde mehr sehen könne „als derjenige, der dazugehört und vieles einfach nicht mehr wahrnimmt“, und dass man einem Fremden, „dem man auf einer Reise begegnet, intimste Dinge anvertraut, die man seinem besten Freund nicht erzählen würde“. Einleuchtend.

Nur blendet der Filmemacher, der vorgibt, so unintentional zu reisen, aus, dass das abfilmende Verwerten dieser „zufälligen“ Begegnungen eben Sinn und Zweck seiner Reise waren. Ein Filmemacher reist wie so ein Insektensammler von früher durch die Provinz, lässt sich ein paar typisch russische Lebenshighlights erzählen, filmt sie ab, verschwindet wieder und macht daraus dann so etwas wie ein Best of russisches Leben. Wie Gerd Ruge halt, nur poetischer. Breite Seelen, schöne Landschaften und viel Sehnsucht ist auch immer mit dabei. Der Film ist ganz schön, aber so könnte man das auch sehen: „Nachbarländer seien gegenseitig zu erblicken, / der Hähne und Hunde Stimmem gegenseitig zu hören, / und das Volk erreiche Alter und Tod, ohne einander zu besuchen“. Das lehrt Lao-Tse. DETLEF KUHLBRODT

„Dorogi – Unterwegs“; R.: Marat Magambetow, 60 Min., Russland/Dtld. 2002. Termine: Programm