: Das Kino, die Kränkungsmaschine
Keine Weltkultur im Reich der Bilder: In den USA wird jetzt Lars von Triers „Dogville“ Antiamerikanismus vorgehalten, in Japan Sofia Coppolas „Lost in Translation“ noch vor dem Filmstart kritisiert, weil die Regisseurin sich auf Japan-Klischees ausruhe. Bemerkungen zu einer merkwürdigen Diskussion
VON GEORG SEESSLEN
Das Kino gehört zu den multifunktionalen Instrumenten einer Gesellschaft. Es ist Geschmacksverstärker, Bildermaschine, Zeitkiller, Code-Manipulation, weiche Droge, Sinnproduktion und dies und jenes. Früher war das Kino auch ein kulturelles Verständigungsmittel, eine Erzählung, die woanders zu Gast sein konnte. In der Mitte der Gesellschaft konnte man im Kino mal im alten Rom und in der nicht sterben dürfenden Serengeti sein. Und an der Peripherie konnte man mit dem Programmkino oder dem Goethe-Institut auch einmal in die Bildererzählungen und Mythen anderer Kulturen, anderer Völker, anderer Nationen eintauchen. Ein Film war damals unter anderem ein Mittel für eine Kultur, einer anderen etwas von sich mitzuteilen. Was hätten wir in den Fünfziger- und Sechzigerjahren von Afrika oder Japan wissen können, als Empfindung, als Miterleben über das Begriffliche des Wissens hinaus, wenn es nicht das Kino gegeben hätte?
Aber dieser globale Bilderfluss konnte sich nie unabhängig machen vom alten und neuen Kolonialismus. Und er funktionierte innerhalb der Interessen von Exportwirtschaften und kulturellen Selbstbildern. Aus diesem Grund auch war damals die Zensur so ausgeprägt: Den Schrecken der Wahrheit wollte niemand so einfach aus dem Land hinaus- oder ins Land hineinlassen, nicht vierundzwanzigmal in der Sekunde. Wenn zum Beispiel zu dieser Zeit ein Film etwas Unschmeichelhaftes über Deutschland im Allgemeinen und über die faschistische Vergangenheit im Besonderen zeigte, dann wurde er entweder nicht in die Kinos der BRD gelassen, um die unerwünschten Stellen geschnitten oder durch Synchronisation entschärft. Und da half auch kein Name wie, sagen wir, Roberto Rossellini oder Alfred Hitchcock. Umgekehrt entwickelten sich ganze Filmgenres wie der österreichische „Heimatfilm“ zu Instrumenten der Tourismuswerbung. Und schließlich bestimmte eine Filmkultur auch über den Exotikbonus der Importe. Der japanische Regisseur Akira Kurosawa musste sich im Westen anhören, dass seine Filme einfach zu westlich seien.
Natürlich funktionierten Filme immer auch umgekehrt als Projektionen. Das Kino hatte im Mainstream sein Traum-Amerika oder sein Traum-Afrika erschaffen, gegen das irgend realistische Filmbilder wenig Chancen hatten (und haben). Das ist immer eine Frage der Macht. Das Kino ist eine Maschine, in der es um die Kontrolle der Bilder geht, und ein Instrument der Kontrolle ist der Kampf um religiöse, kulturelle und nationale Werte in den Bildern. Dieser Konflikt kann bei Bedarf auch angeheizt werden.
Die Verhältnisse, na klar, haben sich empfindlich geändert. Die Vorherrschaft der Weltbildermaschinen mit den Zentren in Hollywood, Bombay und Hongkong verdrängten die Dialogfilme weitgehend auf einen eigenen Bereich der mehr oder weniger subventionierten Kinokultur. Das Fernsehen geht mit den Bilderflüssen noch viel schamloser um; nicht mehr mit Tarzan, sondern mit dem Traumschiff wird Afrika visuell unterworfen. Die Billigflieger und Pauschalurlauber haben ein neues Netz über die Welt gezogen: Kenn' ich, weiß ich, war ich schon. Man weiß vom anderen mehr als von sich selbst, fällt am liebsten auf die eigenen Kulturlügen herein und ist in Bildern mehr daheim als in Erfahrungen. Deshalb empfindet man auch, umgekehrt, Bilder, visuelle Inszenierungen, Symbole so rasch als Kränkung.
Auch im Reich der Bilder ist die Weltkultur zerbrochen in einen besinnungslosen neoliberalen Globalkapitalismus, der das Erbeuten und das Vermarkten von Bewegungsbildern nicht etwa nach Bedarf, sondern nach Marktmacht regelt, und in einen fundamentalistischen Gegenimpuls, der die Welt als endlosen Vorrat an Kränkungen ansieht. Der Fundamentalismus als Ästhetik und Tat der Reaktion auf die Kränkung bricht indes, wie eine Krankheit, an immer neuen, unerwarteten Stellen in den zynischen Flüssen von Geld, Bildern, Blut und Waren des Neoliberalismus auf.
Dass das Kino auch als eine Art der Kränkungsmaschine funktioniert, hat eine lange Tradition. Im Kino verhöhnten die Kolonialisten die Kolonisierten, die arabische Welt wurde auf unseren Leinwänden zu Märchenpracht und Hadschi-Halef-Omar-Kindlichkeit; der afrikanische Dschungel diente der Symbolkraft des tragischen Kolonialisten, der nur ins Herz der Finsternis stoßen konnte, und überhaupt können „wir“ uns in unseren Kinobildern nur finden, wenn wir die eigentlichen Subjekte darin zu unterworfenen Fremden machen.
Das harmloseste Wort dafür ist „Klischee“, es lauern aber immer auch Rassismus und Verachtung dahinter. Dass sich der Bilderkrieg um die Kränkungen nun von den Peripherien ins Zentrum verlagert, ist eine scheinbar „natürliche“ Folge der Globalisierung. Interessanterweise aber treffen nun die Kränkungen auf den Produktionszusammenhang der Weltbildermaschine selbst zurück: Hollywood kränkt (wie in Sophia Coppolas „Lost in Translation“) nicht mehr durch Ignoranz, sondern paradoxerweise durch die Anerkennung der Fremdheit. Und Amerika fühlt sich gekränkt durch einen Film aus dem alten Europa, dessen Kino bislang wohltuend exotisch blieb, in Codes geschrieben, die man meinethalben in Museen und Filmhochschulen dechiffrieren konnte, die aber doch nichts mit dem amerikanischen Selbstbildnis zu tun hatten. In europäischen Filmen war bis dahin auf kindische Weise von Amerika geträumt worden, nicht so wie in Lars von Triers „Dogville“.
Ein erstes Symptom für das Kino als Kränkungsmaschine bot die absurde Aufregung um Mel Gibsons „Passion“. Vielleicht ging es zu Beginn um die Frage, ob dieser so und so „fundamentalistische“ Jesus-Film nun antisemitisch gefärbt sei oder nicht. Aber dann musste sich zunehmend eine ganze christlich geprägte Kultur gegen dieses Splatterbild zur Wehr setzen. So ein Christusbild kränkt eine christliche Gesellschaft, die ihre Kompromisse mit dem Kapitalismus, der Demokratie, der Aufklärung und sogar dem Humanismus geschlossen hat.
Das Symptom aber wies auch auf den Wandel der Bilder hin. Es ist gar nicht mehr die eigene Religion, die eigene Kultur, der eigene Code, den wir eifersüchtig hüten, so wie in der alten Form, wo ein Bild im Kino zum Beispiel unsere „sittlichen Anschauungen“ oder gar unser „gesundes Volksempfinden“ kränken konnte. Unsere Eifersucht richtet sich stattdessen auf die andere Religion, die andere Anschauung, die anderen Codes. Dass die anderen Kopftücher tragen, dass die anderen einen anderen Christus wollen, dass die anderen so empfindlich sind, das wiederum kränkt uns. Der andere Blick löst nicht mehr die Arbeit am eigenen Bild aus, sondern schiere Panik.
„Dogville“, wir erinnern uns, spielt in einem mit einfachsten Mitteln in einer Fabrikhalle nachgestellten Dorf, von dem behauptet wird, es befinde sich in den USA. Dorthin kommt eine Frau, die nicht umsonst Grace heißt, wird aufgenommen, ausgebeutet, gedemütigt, bis sie der Gangstervater aus der Hölle holt und sie ein Strafgericht abhalten lässt, das der Seeräuber-Jenny gefallen hätte. Dass wirklich die USA und nicht einfach „die Welt“ gemeint sind, zeigt der Regisseur zunächst beiläufig durch Bilder und Radioeinsprengsel während der „Handlung“ und dann noch einmal ziemlich brüsk beim Abspann durch eine Collage von Fotografien aus der sehr konkreten Geschichte der Klassenkämpfe.
„Lost in Translation“, wir erinnern uns, zeigt, wie die japanische Kultur sich dem anderen Blick trostlos unzugänglich macht und ihn auf sich selbst zurückwirft. Auch in diesem Bild der Fremdheit sind genügend Elemente des materiellen Realismus eingefügt, um Japan als Japan und nicht etwa als „Bild der Fremdheit“ erscheinen zu lassen.
Was also bei „Passion“ in einem primär religiösen Kontext begann, wiederholt sich nun bei „Dogville“ und „Lost in Translation“ im Kontext einer nationalen Kränkung. Und noch eine merkwürdige Koinzidenz: Bei allen drei Filmen war der Aufschrei der Kränkung erfolgt, noch bevor die Bilder überhaupt zu sehen waren. Es ging, so scheint es, jedes Mal nicht darum, die Bilder zu kritisieren, sondern darum, sie gar nicht erst zuzulassen. Eine Strategie, die selber nur in einem fundamentalistischen Weltbild funktionieren kann.
Bemerkenswerterweise handelt es sich bei allen drei Filmen um Produktionen, die ohne die Aufregung, die um sie herum entfacht wurde, in den Kinokulturen eine eher bescheidene Rolle gespielt hätten. Jedenfalls haben sie kaum etwas mit dem eingefahrenen System der internationalen blockbuster und der multimedialen Verwertungen zu tun. Man mag also den Verdacht hegen, dass nicht etwa Filme eine Spannung ausgelöst hätten, sondern dass vielmehr Spannungen sich Filme ausgesucht hätten, Filme allerdings, darin liegt vielleicht der Haken, die alle drei (und es werden in der nächsten Zeit garantiert noch mehr) eine besondere Mischung aus dem allgemeinen und akzeptierten und dem eigensinnigen und widersprüchlichen Bild herstellen. Es sind nicht Bilder des Fremden, sondern es sind Bilder des Bekannten, die Risse der Fremdheit erhalten.
Die Grammatik dieses Bilderaustauschs hat sich geändert. Eine Kultur (Religion. Sprache, Mythologie, Nation, was man eben zur Identifikation so hernimmt) spricht in Kinobildern zu sich selbst, bestätigend zumeist, kritisch hier und da. Eine Kultur spricht in Kinobildern zu einer anderen, bedrohend oder um Verständnis bittend. Eine Kultur spricht in Kinobildern über eine andere, neugierig oder ignorant. Aber auf diese Filme, die auf der einen Seite als Kränkungen, auf der anderen als Offenbarungen angesehen werden, trifft so recht keine dieser Kommunikationsrichtungen zu. Sie scheinen vielmehr den Bilderfluss selber zu stören. Sie machen irgendwas nicht mit, geben irgendwas nicht her, nehmen irgendwas nicht an. Die wechselseitige Kontrolle des internationalen Bildertauschs gerät da aus dem Gleichgewicht.
Denn natürlich kann man diese cineastischen Kränkungen nicht verstehen, wenn man nicht zur gleichen Zeit das internationale Kino der Globalisierung als steten Fluss der gegenseitigen Schmeicheleien, der fiktiven „Geschenke“ ansieht. Der fundamentalistische Christenfilm „Passion“ stört den universalen Religionsbrei von „The Matrix“; „Lost in Translation“ stört das Nationalismen-Amalgam von „The Last Samurai“; „Dogville“ stört überhaupt die wohl dosierte Mischung von Intimität und Distanz in der Selbstkritik der amerikanischen popular culture.
„Dogville“ sagt nichts, was nicht eine Folge der „Simpsons“ auch sagen könnte, und nicht umsonst zieht der Kritiker der New York Times am Ende seiner abwägenden Kritik eine Linie von Lars von Trier zu „South Park“. Aber bei einer Kränkung kommt es eben auch immer darauf an, woher sie kommt. Und Lars von Triers Film beharrt in seinen Mitteln so sehr auf dem Blick von außen, wie Sophia Coppola es mit den ihren in „Lost in Translation“ tut. In allen drei Filmen wird die Sprache fremd; im Aramäisch von „The Passion“, im verdrehten Kunstenglisch in „Dogville“ oder im nicht übersetzten Japanisch in „Lost in Translation“. Statt zur Fiktion der Einheit gelangen die Filme auch formal zum Schmerz der Differenz. Das ist an sich schon eine große Zumutung.
Die erste Kränkung, die diese Filme auslösen, ist einfach nachzuvollziehen: Das moderne Christentum will sich nicht so trostlos gewalttätig darstellen lassen wie bei Mel Gibson, und schon gar nicht als Konstruktion eines propagandistischen Feindbildes. Amerika will sich nicht als barbarische Melange von Bigotterie und Brutalität darstellen lassen wie in „Dogville“. Und Japan will nicht so abweisend und auch nicht so „typisch“ sein wie in „Lost in Translation“. Aber es gibt eine Metakränkung, die das Weltkino selbst betrifft. Man kann sie ungefähr mit den Worten übersetzen: Wir verstehen uns nicht.