Von Zeitgeist und Heiligem Geist

Am Ende des Kirchentages sind die religiösen Gäste glücklich. 200.000 kamen zum Abschlussgottesdienst. Das Wetter super, die Berliner nett, die soziale Interaktion ergebnisoffen. Nicht zuletzt wurden Gräben überwunden. Gräben jedweder Art

von WALTRAUD SCHWAB

Schrecklich sei der Kirchentag gewesen, sagt ein Münchner, der auf dem Pariser Platz den Gläubigen, die zum Abschlussgottesdienst vor dem Reichstag an ihm vorbeiziehen, seinen Gutschein für einen Bibelkurs in die Hand drückt. „Kirchentag, was soll das sein?“, fragt er, ohne den spitzbübischen Zug um den Mund und seine Freundlichkeit zu verlieren. „Es müsste Christentag heißen, denn was sind die Kirchen? Die werden eines Tages verbrennen.“

Mit seiner pessimistischen Sicht auf die Dinge bleibt der Bayer indes allein. Denn die nahezu 200.000 Gläubigen, die sich rund um den Reichstag und das Brandenburger Tor versammelt haben, sind beseelt von einem Aufbruch. „Endlich Gräben überwinden“, sagt ein junger Mann, der alles sein könnte zwischen Popper und Hooligan light. Welche denn? „Die zwischen der Nicole und ihm“, hilft sein Freund, „deshalb sieht er auch so müd aus.“ „Müd“ hat er gesagt, das klingt nach süddeutscher Heimat. Drei tolle Tage ohne Schlaf hat er hinter sich.

Das haben andere auch. Vor allem jene Jugendlichen, die in Kreuzberger Schulen und nicht in denen in Spandau übernachten konnten. Erschöpft liegen sie auf ihren Rucksäcken und Isomatten mitten unter den Gläubigen vor dem Reichstag. Einer ist eingeschlafen, obwohl sein Thema gerade besungen wird: „Wo Menschen sich verschenken, die Liebe bedenken.“ „Hey, wach auf, du bist gemeint!“, sagt seine neben ihm liegende Freundin. Später werden sie sich beim Vaterunser umarmen. Wie viele andere auch. Allerdings ohne mitzubeten. Gruppenzwang gibt es nicht. Denn in Berlin präsentierten sich die Gläubigen als eine beseelte Schar, die keine Berührungsängste mit dem Leben hat. Zeitgeist und Heiliger Geist kommen aus einem Holz geschnitzt daher.

Was für die Jungen die „Überwindung der Gräben“ ist, nennen andere Anfang. „Ein Anfang ist gemacht.“ Welcher? „Dass man gemeinsam Christ ist.“ Diese Gemeinsamkeit erhebt. Mit ausgebreiteten Armen steht einer mitten unter den Leuten, die sich auf dem Pflaster vor dem Brandenburger Tor niedergelassen haben und auf die Videoleinwand im XXL-Format starren, auf der der Abschlussgottesdienst bis hierher übertragen wird.

„Nach drei Tagen religösem Stress“, wie einer es ausdrückt, bündelt die Veranstaltung noch einmal all die unterschiedlichen Wünsche und Sehnsüchte nach „Froher Botschaft“ und „heiler Welt“. Das Poetische kommt dabei nicht als leere Worthülse daher. Denn Kardinal Lehman, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, und Manfred Kock, der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirchen, wagen in ihrer gemeinsamen Predigt auch Sätze „gegen die Globalisierung des Unrechts“. In sanften Worten kritisieren sie weltpolitische Wirklichkeiten. Der Reichtum der Erde dürfe nicht räuberisch auf Kosten nachkommender Generationen vergeudet werden, lautet der kleinste gemeinsame Nenner. Ehrfurcht sei die Antwort auf Gottes Segen. „Ehrfurcht atmet Freiheit.“

In keinem anderen Rahmen als dem Kirchentag können Worte wie Segen, Ehrfurcht, Heiligenschein, Seele, Frieden, Mitmenschlichkeit, Gnade, Freiheit und Ewigkeit so häufig gesagt werden, ohne dass jemand „Kitsch“ oder „Trash“ schreit. Denn in der Gemeinschaft der Gläubigen – zumindest beim Abschlussgottesdienst – herrscht die fünfte Dimension: Erleuchtung. Ein Massenphänomen mit versöhnlicher Absicht. „Was uns jetzt verbindet, kann niemand zerreißen“, sagen die Kirchenvorsitzenden über Lautsprecher.

Ein Teilnehmer drückt es konkreter aus: „Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass man zusammen essen und beten darf, aber nicht gemeinsam das Abendmahl abhalten.“ Berlin habe gezeigt, dass es auch anders geht. Deshalb sind am Ende von den Teilnehmern – außer von jenem Kirchenverbrenner aus München – nur Superlative zu hören: „Bestens“. „Super“. „Klasse.“ „Spitzenmäßig.“ „Echt geil“.