Niemand hat etwas gesehen

Die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit ist alles andere als einfach. Gacaca-Gerichte, die seit zwei Jahren arbeiten, bieten Anlass zur Skepsis

Mit der Bestrafung der Täter allein ist nicht viel erreicht. Wichtiger wäre die späte Einsicht in ihr verbrecherisches Tun

VON GERD HANKEL

Die Vorsitzende des Gacaca-Gerichts von Gishamvu wird ungeduldig. Zum dritten Mal fordert sie die anwesende Dorfbevölkerung auf, sich endlich zu äußern. Unter Tränen hatte Constance M., eine Tutsi-Überlebende des Völkermordes, erzählt, dass es der Hutu Emmanuel B. gewesen sei, der im April 1994 ihre gesamte Familie – Großeltern, Ehemann und Kinder – umgebracht habe. „Alles Lüge“, hatte dieser daraufhin gerufen, „ich habe nichts gemacht. Die Menschen hier wissen genau, was geschehen ist. Hat irgendjemand gesehen, dass ich die Morde begangen habe?“

Nein, niemand hat etwas gesehen. Auch die dritte Aufforderung der Vorsitzenden verpufft wirkungslos. Alle schweigen, lassen ihren Blick schweifen oder beobachten aufmerksam ein paar spielende Kinder. Das Schweigen hält auch an, als Constance M. an ihren Platz zurückgeht und dabei an Emmanuel B. vorbeikommt. Der zieht seinen Hut und zischt ihr während dieser Geste ostentativer Höflichkeit zu: „Du alte Lügnerin. Wir sprechen uns noch.“

Rund 1.400 Personen lebten Anfang 1994 in Gishamvu, einer kleinen Ortschaft im Süden Ruandas. 209 davon wurden während des Völkermords getötet, doch es kamen damals viele Tutsi auf der Flucht hinzu, und so lag die Zahl der insgesamt im Gebiet dieser Ortschaft Getöteten bei 1.130. Heute hat Gishamvu gut 800 Einwohner. Lediglich 30 von ihnen sind Tutsi, etwa zur einen Hälfte Überlebende des Völkermords, zur anderen Rückkehrer aus Burundi.

Schon die nach wie vor bestehenden Mehrheitsverhältnisse zwischen Hutu und Tutsi machen deutlich, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit in Ruanda alles andere als einfach ist. Rund 85.000 Häftlinge sitzen derzeit noch in den Gefängnissen. Doch jüngsten offiziellen Schätzungen zufolge soll die Zahl derer, die mitgemordet, mitgeplündert oder vergewaltigt haben, aber bisher unentdeckt geblieben sind, ungefähr 500.000 betragen.

Es liegt auf der Hand, dass Ruanda nur dann eine friedliche Zukunft hat, wenn es gelingt, möglichst viele Täter zur Verantwortung zu ziehen. Allerdings wäre mit einer Bestrafung allein noch nicht viel erreicht. Zumindest ebenso wichtig wäre es, Einsicht in das verbrecherische Tun der Vergangenheit zu fördern.

Der internationale Strafgerichtshof im tansanischen Arusha, den der UN-Sicherheitsrat im Herbst 1994 einrichtete, ist in dieser Hinsicht nur von beschränktem Nutzen. Das liegt nicht so sehr daran, dass er in erster Linie die hochrangigen Planer und Organisatoren des Völkermords ins Visier nimmt. Auch nicht daran, dass er bis heute nur 19 Urteile gefällt hat. Seinen Ruf ganz erheblich lädiert – und zwar gerade in Ruanda selbst – hat der Gerichtshof vielmehr durch eine Reihe von entwürdigenden Zeugenbefragungen besonders in Vergewaltigungsfällen sowie durch die Zulassung von Verteidigungsstrategien, die letztlich auf eine Leugnung des Völkermords hinausliefen. Der Ansehensverlust des UN-Gerichts kommt der ruandischen Regierung nicht ungelegen, denn schon mehrmals hat das Gericht verlautbaren lassen, dass es auch wegen Verbrechen der damaligen Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) zu ermitteln gedenke, deren Oberbefehlshaber Paul Kagame heute Staatspräsident ist.

Gründe genug also, dass Ruanda bei der Ahndung des Völkermords hauptsächlich auf die eigene Justiz setzt. Ordentliche Strafgerichte sind zuständig für Vergewaltigung, sexuelle Folter und für die Taten derer, die ihre Position in Verwaltung, Armee und Kirche zur Unterstützung des Völkermords missbraucht haben. Dörfliche Gacaca-Gerichte hingegen haben die Aufgabe, die Verbrechen der vielen Mitläufer zu ahnden – der „kleinen Täter“, die den Völkermord erst landesweit ausführten.

Die Strafgerichte haben bislang gut 10.000 Urteile gefällt, davon rund ein Fünftel Freisprüche – durchaus in Verfahren, die rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen. Etwa 1.000 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung der Todesstrafe ist seit 1998 ausgesetzt, und vieles spricht dafür, dass sie in nächster Zeit komplett abgeschafft wird.

Blickt man auf die bisherige Tätigkeit der Gacaca-Gerichte, ist eine ähnlich positive Einschätzung nicht möglich. Das Gacaca-Verfahren baut auf das Prinzip einer gemeinsamen Rechtsfindung: Unter Beteiligung der Dorfbevölkerung versuchen Täter und Opfer das Geschehen von 1994 zu rekonstruieren, eine Gruppe von sozial anerkannten Laienrichtern entscheidet über die Schuld des Täters und legt das Strafmaß fest. Das verspricht zwar am ehesten, dem Einzelnen die Dimension seiner Handlung klar zu machen. Die Entwicklung jedoch, die die Gacaca-Justiz seit ihrem offiziellen Beginn im Juni 2002 genommen hat, bietet Anlass zu Skepsis. Was große Plakate überall in Ruanda verkündeten, ist bislang auf wenig Resonanz gestoßen. „Die Wahrheit heilt“, hieß es darauf, und: „Wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wenn wir gestehen, was wir getan haben, wird das unsere Wunden schließen.“

Liegt es an diesen Erwartungen, dass mittlerweile Ernüchterung eingetreten ist? Erwartungen, die eine Gerechtigkeit auch für den Einzelnen als erreichbar erscheinen ließen? Die die Geständnisbereitschaft zumindest vieler Täter voraussetzten und die davon ausgingen, bei dem Völkermord handle es sich um ein Geschehen, das bis ins Detail aufgeklärt werden könnte?

Es kam nämlich ganz anders. Mit zunehmender Verfahrensdauer hat das Interesse der Bevölkerung rapide nachgelassen. Auch Geldstrafen oder die zwangsweise Abholung einzelner Mitglieder der Dorfbevölkerung durch die Ordnungskräfte haben zuletzt das für eine Gacaca-Sitzung erforderliche Quorum von 100 erwachsenen Anwesenden nur mühsam erreichen lassen. Die Überlebenden des Völkermords wollten sich nicht immer wieder mit dem ihnen zugefügten Leid auseinander setzen müssen, denn bis heute ist nicht sicher, wann die Verfahren zu einem Urteil gelangen. Das ist frühestens dann möglich, wenn (was ab Juni 2004 geplant ist) landesweit Gacaca-Prozesse stattfinden. Bisher gab es Gacaca-Verfahren nur in etwas mehr als 10 Prozent des Landes. Zudem ist da, wo die materielle Not groß ist, das Interesse an einem ideellen Wert wie der Rechtsanwendung gering. Noch immer warten die Opfer auf nennenswerte Entschädigung. Dass bei den Tätern, meist einfachen Bauern, nichts zu holen sein wird, ist bekannt. Ein Entschädigungsgesetz liegt unterschriftsreif vor, ist aber noch nicht in Kraft.

So wie sich viele Tutsi als Opfer nicht ernst genommen fühlen, so fühlen sich viele Hutu pauschal als Täter diffamiert. Obschon die Kompetenz der Gacaca-Gerichte das Geschehen bis zum 31. 12. 1994 abdeckt, erfahren Hutu, dass die Verbrechen, die die RPF während ihres Vormarsches beging, nicht zur Kenntnis genommen oder bagatellisiert werden. Ähnlich wie in Gishamvu reagieren sie darauf mit Verweigerung. Der Optimismus der Anfangsphase hat einer Rückbesinnung auf die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung Platz gemacht, in der Begriffe wie Einheit und Versöhnung mehr und mehr zu bloßen Parolen werden.