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Archiv-Artikel

Ruanda, kolonialer Frontstaat

Neue Enthüllungen zeigen, dass Frankreichs Rolle bei der Unterstützung des Völkermordes und der Täter viel weiter ging als bisher bekannt

Ruanda wurde gegen anglofone Tutsi-Rebellen verteidigt. Tutsi insgesamt galten daher als suspekt

VON DOMINIC JOHNSON

1991 gab es bei Ruhengeri im Nordwesten Ruandas eine Straßensperre mit ruandischen und französischen Soldaten. Wer durchwollte, musste seinen Ausweis zeigen – damals stand auf Ruandas Personalausweisen noch „Hutu“ oder „Tutsi“. Immaculée erinnert sich: „Im Rückspiegel unseres Minibusses sah ich, wie ein Tutsi im Auto hinter uns aussteigen musste. Nach Prüfung seines Ausweises gaben ein französischer Soldat und ein ruandischer Offizier ihn an Milizionäre weiter, die ihn sofort mit Macheten angriffen und ihn dann in den Straßengraben warfen. Ich blickte in den Graben und sah mehrere Leichen.“

Die Ruanderin Immaculée sagte dies vor einer „Bürgerkommission“ mehrerer Nichtregierungsorganisationen aus, die im März in Paris eine Woche lang Frankreichs Unterstützung des ruandischen Völkermordregimes von 1994 untersuchten. Es war nie ein Geheimnis, dass Frankreich der engste Verbündete der damaligen ruandischen Regierung war. Nachdem 1990 in Ruanda der Bürgerkrieg zwischen Armee und Tutsi-Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) ausbrach, verwandelte Frankreich mit Militärberatern, 150 Soldaten und Waffenlieferungen in Millionenhöhe Ruandas damalige Mini-Armee in eine schlagkräftige Streitmacht. Ihre Soldaten griffen direkt in den Krieg gegen die RPF ein, sie standen an Straßensperren, verhörten und folterten. Ruanda war damals der drittgrößte Waffenimporteur Afrikas.

Offiziell zogen die Franzosen Ende 1993 aus Ruanda ab, nachdem Regierung und RPF Frieden geschlossen hatten und UN-Blauhelme gelandet waren. Erst im Juni 1994, so die offizielle Lesart, griffen französische Truppen wieder in Ruanda ein und trugen so zum Ende des Genozids bei. Doch inoffiziell war die Zusammenarbeit nie abgerissen. Neueste Erkenntnisse, die über die Befunde einer parlamentarischen Untersuchungskommission von 1998 hinausgehen, belegen das Ausmaß der Kollaboration und ziehen jetzt Forderungen nach umfassender Untersuchung nach sich.

Französische Waffen kamen während der ganzen Zeit der Massaker weiter nach Ruanda, geliefert über Zaire und bezahlt von der ruandischen Nationalbank über Konten in Frankreich – mit insgesamt 33,6 Millionen französischen Francs zwischen dem 15. Mai und 1. August, hieß es bei der Bürgerkommission in Paris. Nach Angaben der britischen Journalistin Linda Melvern beim internationalen Ruanda-Forum in London Ende März waren 47 hochrangige französische Offiziere in Ruandas Armee „eingebettet – sie arbeiteten mit den Extremisten und sahen der Milizenausbildung zu“.

Wenige Tage nach Beginn der Massaker landeten französische und belgische Kampftruppen in Kigali – jedoch nur, um Ausländer zu evakuieren. Die französischen Truppen brachten der ruandischen Armee, die täglich tausende Tutsi tötete, Flugzeuge voller Waffen mit. Die Franzosen waren in der Lage, ganze Straßenzüge abzuriegeln, um eine einzige ausländische Familie zu retten, erinnert sich gegenüber der taz ein Kongolese in UN-Diensten, der auf diesem Weg seine Angehörigen fand. Ruander retteten sie nicht. Als sie abzogen, übergaben sie den Flughafen von Kigali der ruandischen Armee, nicht der UNO, die dadurch keine Hilfe für die zehntausenden Ruander einfliegen konnte, die in UN-Einrichtungen Zuflucht gesucht hatten.

Mitte Juni begannen die Tutsi-Rebellen der RPF, militärisch die Oberhand über die Völkermordregierung zu gewinnen. Da beschloss Frankreich eine Militärintervention: Die „Opération Turquoise“, eine angeblich „humanitäre“ Intervention mit 2.500 hoch gerüsteten Kampftruppen, darunter dem größten Kontingent von Special Forces, das Frankreich je ins Ausland gesandt hatte. UN-Kommandant Romeo Dallaire erinnert sich in seinen Memoiren an die Wirkung des Interventionsbeschlusses auf Kigali: „Die Milizen waren verrückt vor Freude über die Aussicht einer Rettung durch die Franzosen. Das erweckte die Jagd auf die Überlebenden des Genozids zu neuem Leben.“ Als die französischen Truppen landeten, jubelten die Killer ihnen zu.

Die französischen Offiziere „glaubten nicht an die Existenz eines Genozids“, erinnert sich Dallaire. Ihre Soldaten hatten erzählt bekommen, sie sollten Hutu vor vorrückenden Tutsi retten. Sie waren völlig verblüfft, als sie herausfanden, dass ihre Hutu-Freunde die Mörder waren. Eine allgemeine Entwaffnung der Völkermordmilizen unternahmen die Franzosen nicht.

In Bisesero im Westen Ruandas, wo sich tausende Tutsi in einem schlecht zugänglichen Gebiet verschanzt hatten, ließen die Franzosen drei kostbare Tage zwischen der ersten Kontaktaufnahme und einer Rettungsaktion vergehen, während derer die Milizen weiter angreifen und morden konnten. Ein damals in der Region stationierter Diplomat sagte der taz, jeden Tag habe man auf dem Kivu-See frische Leichenteppiche aus der französischen Zone sehen können. Als das Völkermordregime zusammenbrach, geleiteten die Franzosen dessen Anführer über die Grenze nach Zaire.

Hinter all dem steckte eine kohärente politische Linie. Die Franzosen, so schreibt der Pariser Journalist Patrick de Saint-Exupéry in seinem neuen Buch „L’Inavouable: La France au Rwanda“, waren nicht nur Helfershelfer, sondern Initiatoren der Strategie, die zum Völkermord führte. Im Februar 1991 schlug der wichtigste französische Militärberater in Ruanda, Oberstleutnant Gilbert Canovas, den ruandischen Behörden im Raum Ruhengeri die Gründung von Volksmilizen vor. „Aufstellung kleiner ziviler Elemente, als Bauern verkleidet“, hieß das damals. Offiziell wurde die Gründung von Hutu-Milizen in Ruanda ab 1992 landesweit durchgeführt.

Soldaten, mit denen Saint-Exupéry sprach, erklärten Frankreichs damalige Strategie im Licht der Modelle Algerien und Indochina. Ruanda war demnach Frankreichs dritter und letzter großer Kolonialkrieg. Östlichstes frankofones Land in Afrika und damit Frontstaat einer imperialen Einflusszone, sollte Ruanda um jeden Preis gegen die aus dem anglofonen Uganda eingedrungenen Tutsi-Rebellen der RPF verteidigt werden. Ruandas Tutsi insgesamt galten daher als suspekt. Ruandas Hutu-Regime zog daraus den Schluss, man müsse sie ausrotten. „Kakerlaken“ nannten Ruandas Radiosender die Tutsi. Der französische Söldnerführer Paul Barril wurde für eine „Operation Insektenkiller“ angeworben. Die französische Propaganda bezeichnete die RPF als „Faschisten“, „totalitäre Marxisten“ und sogar als „Schwarze Khmer“, im direkten Anklang an Indochina.

Die Kolonialkriegsstrategie von Vietnam und Algerien wurde von Oberst Lacheroy in der französischen Ecole de Guerre gelehrt, auf die unter anderem Théoneste Bagosora, der spätere militärische Leiter des ruandischen Genozids, ging, sowie argentinische Foltermilitärs. Die darin enthaltene Form der Aufstandsbekämpfung basiert, wie der Kriegshistoriker Gabriel Périès vor der Bürgerkommission ausführte, auf der Bildung „paralleler Hierarchien“ innerhalb der Gesellschaft zwecks totaler militärischer Mobilmachung der loyalen Bevölkerung und Isolierung jedes potenziellen Gegners. „Sobald ein Fremder auftaucht, weiß man sofort, wo er ist, denn es gibt eine Struktur, die die Geheimdienste informiert“, erklärt Périès. „In Ruanda konnte man den Tutsi-Feind als diesen Fremdkörper darstellen.“

Dadurch konnten dann sämtliche Tutsi als Gegner gelten, und dass Ruandas Hutu-Herrscher dies bis zur blutigen letzten Konsequenz trieben, wurde von den Franzosen hingenommen. Ruanda ging für Frankreich trotzdem verloren. Als die Franzosen ihre Botschaft in Kigali aufgaben, hinterließen sie nach Angaben von Melvern einen meterhohen Berg von Aktenschnipseln.

Aber die Strategie lebt weiter. Périès nennt Burundi, Kongo-Brazzaville und Elfenbeinküste als Länder, in denen Frankreich eine ähnliche Militärdoktrin eingeführt hat. In all diesen Ländern sind „ethnische Säuberung“ und Milizenbildung zu Kriegsmitteln geworden. „Während meiner Recherchen sprach ich mit französischen Offizieren, die zu einer Militärschule in der Elfenbeinküste unterwegs waren“, erinnert sich Périès. „Sie hatten das Handbuch von Lacheroy dabei.“