: Der Chronist der vergessenen Toten
Kältetod, Selbstmord, Mord: Der Kreuzberger Christian Linde, Mitbegründer der Straßenzeitung „Motz“, hat die Opfer der Obdachlosigkeit katalogisiert – und dabei anders gezählt als das Bundeskriminalamt. Über 350 Fälle erinnern an Misshandlungen und Gewalt gegen Nichtsesshafte in Deutschland
von MELANIE KATZENBERGER
An einen Grabstein soll die Hülle der CD erinnern, keinen prunkvollen, einen bescheidenen. Nur drei Worte sind in den weißen Karton geprägt: „Toter dritter Klasse.“ Das bedarf der Erklärung. „Ich spiele nicht die eine Opfergruppe gegen die andere aus“, sagt Christian Linde, der die CD produziert hat. „Aber wenn beklagt wird, dass Ausländer Tote zweiter Klasse seien“, so der 40-jährige Kreuzberger, „dann sind Obdachlose Tote dritter Klasse.“ Die Gewalt gegen Wohnungslose komme in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer kaum vor.
Es ist dieses Vergessen, das Linde umtreibt. Gewalt gegen Ausländer spiele in der Berichterstattung der Medien seit den Übergriffen von Rostock und Mölln 1992 eine große Rolle, völlig zu Recht, wie er schnell versichert. Die Schicksale vieler Obdachloser jedoch, häufig von Misshandlungen und Bedrohung bis hin zum Mord gekennzeichnet, seien hingegen nach wie vor „publizistisch unterbelichtet“.
Linde – groß, langer schwarzer Mantel, kurz rasierte blonde Haare, rundes Gesicht – sitzt im Gesundheits- und Kulturzentrum der Heilig-Kreuz-Gemeinde in der Gitschiner Straße 15, einer Anlaufstelle für Obdachlose in Kreuzberg. Er trinkt Kaffee, raucht und redet. Der Kommunikationswissenschaftler redet viel. Besonders wenn es um die Obdachlosigkeit geht, verfällt er auch schon einmal in einen dozierenden Tonfall. Dann erinnern Gestik und Intonation an einen Schauspieler. Und immer ist da diese unterschwellige Ironie. Die Diskrepanz zwischen der Ernsthaftigkeit seiner Ambitionen und dem Schalk, mit dem er diese vorträgt, wirkt irritierend.
Seit acht Jahren beschäftigt sich Linde mit der Lebenssituation von Menschen ohne festen Wohnsitz. Damals gründete er mit anderen die Straßenzeitung Motz, deren einzig fest angestellter Redakteur er bis heute ist. Dort veröffentlichte Linde bereits Ende 2000 „Lindes Liste“. Sie basiert auf Zeitungsberichten und umfasst Gewalttaten gegen Obdachlose in ganz Deutschland. Die Aufzählung – bestehend aus Schlagzeile, Erscheinungstag und Zeitungsname – beginnt 1994. Das Datum ist willkürlich gewählt. Aus Zeitmangel hat Linde nicht weiter zurück recherchiert. Eine zweite Liste wurde ein halbes Jahr später in der Zeitschrift konkret abgedruckt. Die „3. erweiterte Fassung“ bildet nun das Kernstück der CD.
Etwa 350 Schicksale hat Linde zusammengetragen. Ein Dreivierteljahr dauerte allein die Recherche in Zeitungsarchiven und im Internet. „Eine unvollständige Chronik“ ist es trotzdem geblieben, das betont Linde immer wieder. „Die Dunkelziffer ist sehr hoch.“ Nur ein Bruchteil der Übergriffe auf Obdachlose wird angezeigt. Nicht über jede angezeigte Tat wird berichtet. Und nicht jeden Bericht hat Linde schließlich gefunden. „Das hier ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt er und tippt auf die CD.
Und trotzdem: Lindes Liste ist sehr viel länger als entsprechende Aufzählungen des Bundeskriminalamtes oder die „93 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung“, die der Tagesspiegel im Jahr 2000 veröffentlicht hat und die Linde seiner eigenen Chronik in Auszügen voranstellt. „Ich will das auch als Kritik verstanden wissen“, sagt er. Linde lehnt die gängigen Definitionen von rechter Gewalt ab. Für ihn haben Täter, die sich Obdachlose als Opfer suchen, per se ein entsprechendes Weltbild.
Ausgeschlossen hat Linde lediglich Morde innerhalb der Obdachlosenszene. Überlebende von Gewalttaten hingegen und Selbstmörder nennt er in seiner Chronik des Terrors genauso wie Kältetote. „Sie sind Opfer der strukturellen Gewalt, der Obdachlose ausgesetzt sind.“
Linde ist kein barmherziger Samariter, keine Mutter Theresa. Auf die Probleme von Obdachlosen ist er in erster Linie nicht aus Empathie gestoßen, sondern weil „Obdachlosigkeit ein vernachlässigtes Segment im journalistischen Bereich“ ist, wie er sagt. Die Komplexität des Problems ist es, die Linde nach eigener Darstellung fasziniert. „Obdachlosigkeit hängt mit allem zusammen, mit der Wohnungspolitik, der Bildungspolitik, der Gesundheitspolitik“, zählt er auf. Linde interessieren die Ursachen, auch die Ursachen der Gewalt. In „Tod auf der Straße“, dem einzigen Beitrag aus eigener Feder auf der knapp 60-minütigen CD, prangert er die zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raumes und die damit verbundene Vertreibung von Obdachlosen an. Im Wechsel mit einer Sprecherin zitiert er aus kommunalen Verordnungen, die die rechtliche Grundlage für die Verdrängung bildeten. Das Bettelverbot auf Erfurts Straßen, die Vertreibungspolitik in Stuttgart, die unzähligen Platzverweise in Hamburg und Berlin stünden exemplarisch für die flächendeckende Ausgrenzung Wohnungsloser in Deutschland. Außerdem dokumentiert er die verbalen Entgleisungen von Politikern, darunter Bayerns Innenminister Günther Beckstein und Berlins ehemaliger CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky, die mit Ausfällen gegen vermeintliche Sozialschmarotzer den Boden für Gewalttaten erst mitbereitet hätten. „Verursacher der Gewalt sind nicht nur die eigentlichen Täter“, mahnt Linde. Es ärgert ihn, dass sich so wenige für die Nöte von Wohnungslosen interessieren.
Bis zum „Fall Manzke“, so Lindes Eindruck, waren Übergriffe auf Obdachlose den Zeitungen nur eine kleine Meldung auf der hintersten Seite wert. Erst der Obdachlose Dieter Manzke aus dem brandenburgischen Dahlewitz schaffte es ganz nach vorn. Den grausamen Mord an Manzke im August 2001 zwängt Linde auf seiner CD denn auch nicht in den harten Dreiklang von Todesart, Datum, Zeitungsname. Manzkes Leben und Sterben räumt Linde mehr Platz ein, sein Schicksal hebt er stellvertretend aus dem der 350 anderen hervor. Auch über Manzkes fünf Peiniger, die vor einem Jahr mehrheitlich zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, erfährt der Hörer mehr. Fast noch unerträglicher als die Monotonie der Aufzählung sind die Details des Einzelschicksals, in die Lindes Liste eingebettet ist.
Dass er mit seiner CD – in einer limitierten Auflage von nur 100 Stück erschienen und einzig übers Internet vertrieben – nicht besonders viele Menschen erreichen wird, stört Linde nicht. Ihn reizt das Medium selbst, „rein künstlerisch“, sagt er. Die Arbeiten, auch und gerade die 60 Stunden im Tonstudio, haben ihm Spaß gemacht.
Weitere Projekte sollen bald folgen. Als Nächstes will er seine Gedichte über Obdachlosigkeit als Buch und auf CD veröffentlichen. Auf einer dritten CD möchte er den Briefwechsel zwischen Bürgern und Behörden dokumentieren. Daraus soll vielleicht auch ein Theaterstück werden. Und dann hat Linde immer noch den Plan, seine Chronik der Gewalt bis 1989 zu erweitern und „ein richtiges Forschungsprojekt daraus zu machen“.
Wird das Schicksal Obdachloser bei all der intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema zum bloßen Arbeitsmaterial? Linde verneint. „Dafür, dass ich nicht abhebe, sorgt mein täglicher Kontakt mit Wohnungslosen.“
Die CD kann unter www.wohnungslos-in-berlin.de bestellt werden und kostet zehn €