: „Alles hohl! Alles hohl!“
Die Menschheit bricht zum Mars auf und will demnächst zum Mittelpunkt der Erde reisen
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Nature plädiert der Geologe David J. Stevenson vom California Institute of Technology unter dem Titel: „Mission to Earth’s core – a modest proposal“ dafür, eine unbemannte Sonde ins Innere der Erde bis zum Erdkern zu schicken. So viele Sonden habe die Menschheit nun schon als Kundschafter zu Planeten, Kometen und Asteroiden geschickt, warum also, so der CalTech-Gelehrte, nicht auch in die unerforschte Welt unter unseren Füßen? Während derzeit eine Mars-Mission nach der anderen in den Weltraum zische, endeten bisher alle Bohrungen in die Erdtiefe bei etwa zehn Kilometern, was bei einem Erddurchmesser von 12.740 Kilometern nicht viel mehr heiße, als ein bisschen an der Oberfläche herumzukratzen. Der Weltraum sei doch sowieso „zumeist leer“, das Erdinnere dagegen „voll gestopft mit interessanten Dingen“. Alles, was man für die Reise zum Mittelpunkt der Erde brauche, seien eine allerdings außerordentlich widerstandsfähige Sonde von der Größe einer Grapefruit, eine Menge flüssigen Eisens und eine große Explosion.
Stevensons Plan sieht vor, zunächst einen Riss in die Erdkruste zu sprengen; die dazu benötigte Energie entspräche, wie der Geologe errechnet hat, wenigen Megatonnen TNT, einem Beben der Stärke 7 oder der Sprengkraft einer herkömmlichen Atombombe. Ist der Abgrund einmal offen, kann das Vehikel seine Expedition beginnen. Geschmolzenes Eisen wird der Sonde hinterhergegossen; der glühende Metallkeil wird immer weiter nach unten sinken, wobei sich der Spalt hinter ihm wieder schließt. Bei einer Geschwindigkeit von 5 Metern pro Sekunde könnte die Sonde die knapp 3.000 Kilometer bis zum Erdkern in einer Woche zurücklegen. Die Reise ins Erdinnere sei nun notwendig, schließt Stevenson: „Die Zeit für Taten ist gekommen.“
Überraschend begeisterten Zuspruch fand Stevenson bei dem in Fachkreisen bislang unbekannten schwedischen Gelehrten Ansgar Nordausson von der Universität Uppsala, der in der Tageszeitung Dagens Nyheter vom 18. 5. 2003 Stevensons „modest proposal“ schwungvoll aufnahm und in einen weiten geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Horizont stellte. So schrieb Nordausson etwa, schon Kant habe in der Kritik der reinen Vernunft eine Neubesinnung über die „Endabsichten unseres Vernunftgebrauchs“ gefordert, und die Endabsicht unseres Vernunftgebrauchs könne doch, so Nordausson, wohl nichts anderes sein, als die möglichst lückenlose Erforschung dessen, was uns am nächsten liegt, des Grundes und Bodens, auf dem wir uns alle bewegen: der Erde.
Weil Nordausson seinen Artikel als „Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Uppsala“ veröffentlicht hatte, teilte das Dekanat des Geologischen Instituts der Universität auf einer eilends einberufenen Pressekonferenz am 19. 5. mit, Nordausson sei Linguist mit dem Spezialgebiet Lautwandel und Flexionsgesetze im Lappischen und im Fach Geologie mit viel Wohlwollen bestenfalls als Hobbyforscher einzustufen, als zwar bisweilen leicht zelotisch auftretender, letztlich aber doch harmlos drolliger Dilettant, der in seinen Sommerurlauben in den Neunzigerjahren, das sei bekannt, auf der Suche nach dem sagenhaften Mahlstrom ein bisschen bei den Lofoten, dann im Rahmen einer Kreuzfahrt auch über dem Mariannengraben und zwischen Java und Sumatra an der Stelle geschnorchelt habe, an der am 27. 5. 1883 die Insel Krakatau explodiert war, aber mehr als in etwa zehn Meter Tiefe schwebende Quallen und eine völlig verrostete Coladose habe Nordausson mit seiner Unterwasserkamera nicht aufnehmen können. „Im Grunde ein armer Spinner“, meinte Dr. Gunnar Magnusson zum Abschluss seines Statements; diese Aburteilung nun erschütterte den anwesenden Nordausson so sehr, dass er sich nach einem kurzen Augenblick kataleptischen Stupors entfesselt schluchzend auf den Boden warf, mit den Fäusten auf den Boden trommelte und auch zwei, drei Mal mit der Stirn hart aufschlug und dabei mehrfach ausrief: „Alles hohl! Alles hohl!“ Der herzugeeilte Pedell hob ihn sanft auf und begleitete ihn nach Hause, nicht ohne zuvor in Richtung von ein paar in der Nähe stehenden, betreten dreinschauenden Journalisten mit vorwurfsvoller Miene vor sich hin zu grummeln, das sei nun die Folge fehlgeleiteter Jugendlektüre; er wisse, wovon er spreche, er kenne Nordausson seit 30 Jahren, noch von der Schulzeit in Falun her.
HENDRIK SCHNEIDER