: „Toleranz kommt aus Bagdad und Basra“
Die Toleranzkultur hatte ihre Verbreitung und ihre Theoretiker ausgerechnet in Basra und Bagdad, als die christliche Kirche noch mit der Inquisition gegen die Vernunft vorging. Ein Gespräch mit dem Historiker der Gerechtigkeitsbewegung. Detlev Quintern
Kann eine Toleranzkultur aus dem Islam und insbesondere aus Bagdad ein Vorbild für Europa sein? Unvorstellbar, wenn man sich die Debatte um den Kampf der Kulturen, besonders um das Kopftuch vor Augen führt. Der Bremer Historiker Detlev Quintern hat zusammen mit dem palästinensischen Kollegen Karmal Ramahi eine 700 Seiten dicke Dissertation über das aus Bagdad stammende Gelehrten-Kollegium der Ichwan as-Safa und der Quarmaten geschrieben. Aus Anlass des bevorstehenden Osterfestes – der Kult hat mit der Erfindung des „Osterhasen“ in der Zeit der Aufklärung seine heutige Form gefunden – sprachen wir mit dem Historiker über die muslimische Toleranztradition.
taz: Gibt es in der muslimischen Tradition auch so etwas wie ein Osterfest?Detlev Quintern: Nein, aber in Ländern wie Syrien, Ägypten oder dem Irak ist es selbstverständlich, dass Muslime und Christen jeweils zu ihren Feiertagen einladen. Seit Jahrhundertenist das dort eine Gewohnheit. Die österlichen Traditionen kommen doch aus dem Orient?Unser Wort Ostern kommt von der ägyptischen Göttin Ischta.In der aktuellen Diskussion um das Kopftuch wird auf die christlich-abendländische Tradition verwiesen ... Nie würde jemand im Irak auf die Idee kommen, dass Christinnen Kopftücher tragen müssen, nur weil die Mehrheit muslimisch ist und Kopftücher trägt. Man sieht in Bagdad Mädchen mit Kopftuch, die gehen Hand in Hand mit anderen Mädchen ohne Kopftuch spazieren. Beim Kopftuch-Streit ist das Problem erst konstruiert und dann inszeniert worden und seitdem reden alle darüber. Ich denke, dass es zu jeder Toleranzkultur dazugehören müsste, dass niemand wegen eines Kleidungsstückes stigmatisiert wird.Verdanken wir unsere Toleranz der christlichen Tradition?Die Ausstellung „Isaak und der weiße Elefant“ in Aachen zeigte ja das Gefälle zwischen Orient und dem Okzident, das galt gerade für die Zeit von Harun Al Raschid und Mamoun, zwei Kalifen aus dem Bagdad des 9. Jahrhunderts. Die Delegation von Karl dem Großen war entsandt worden an seinen Hof, um diplomatische Beziehungen anzuknüpfen, und dann kam der weiße Elefant als Gastgeschenk nach Aachen zurück. Auch wissenschaftliche Instrumente kamen aus Bagdad, über die man in Aachen staunte. In ihrer Zeit hatte die wissenschaftliche und kulturelle Blüte dieses Kalifats ausgestrahlt bis nach Europa. Uns interessierte in unserer Arbeit vor allem die Gerechtigkeitsbewegung. Was war die Gerechtigkeitsbewegung?Das war eine Bewegung, die sich gegen die Gefahr einer Erstarrung gewendet hat und die Toleranz und das Nebeneinander verschiedener Glaubensgemeinschaften vertraten. Sie haben sich sehr orientiert an einem Vernunftbegriff und rationalistische Entwicklungen begründet. Dazu gehörte die Auffassung, dass der Koran durch Menschenhand erschaffen worden ist. Es gab philosophische und religiös ausgerichtete Strömungen und auch politische Strömungen, die in der Zeit der Abassiden koexistierten. Damals wurde der Einklang von Glauben, Vernunft und der Ethik des Guten vertreten. Die rote Fahne als Widerstands-Symbol kommt aus dieser Tradition, die Farbe rot als Zeichen für Gerechtigkeit. Da wird erstmalig in Europa das Schachspiel beschrieben, „Scheich mut“ kommt aus dem arabischen, der Scheich ist tot, heute Schach matt. Sie lehnen die Rede von der christlich-abendländischen Werte-Tradition als einen Kampfbegriff ab. Warum?Europa hat eine Blütezeit der Toleranzkultur gehabt, das war von 711 bis 1492 auf der iberischen Halbinsel. In Al Andalus hat es einen Einklang gegeben von Islam, Christentum und Judentum, das hat ausgestrahlt. Diejenigen, die aus dem Norden und der Mitte Europas dort in Berührung kamen mit den Werten dieser Kultur, die waren mit der Inquisition bedroht. Etwa die Scholastik, die die Toleranzkultur aufgenommen hat. Die letzte Welle der inquisitorischen Maßnahmen um 1610 ging gegen konvertierte Araber, die Conversos, die auch aufgrund des Drucks übergetreten waren zum Christentum. Sie wurden verdächtigt von ihren Nachbarn: Was kochen sie, beten sie nicht vielleicht doch noch heimlich? Der Antisemitismus hat in der Verfolgung von Arabern auf der iberischen Halbinsel seine Wurzeln.Wenn Politiker von der christlichen Tradition reden, meinen sie nicht Inquisition und Kreuzzüge, sondern vieles, was danach gekommen ist. Hat die christliche Kultur die brutalen Phasen ihrer Geschichte überwunden?
Naja, die Inquisition in Spanien hat offiziell bis ins 19. Jahrhundert gedauert. Das Christentum ist ja auch eigentlich eine arabische Religion, ursprünglich. Jesus hat aramäisch gesprochen, er ist in Palästina aufgewachsen. Diejenigen, die ihn gekreuzigt haben, haben dann sein Kreuz getragen: Als man das Christentum nicht mehr unterdrücken konnte, wurde es inkulturiert. Helene, die Tochter von des weströmischen Kaisers Konstantin, hat den Christus-Kult geschaffen. Athanasius und andere Kirchenväter waren Deportierte aus Ägypten, die im römischen Reich bis zum Rheingebiet das Christentum verbreiteten. Augustin war ein Tunesier. Was die christlich-abendländische Tradition sein soll, worauf sie fußt – das ist für mich als Historiker ehrlich gesagt eine offene Frage. Die kulturelle Tradition der Toleranz ist keine Frage der Religion, das Kreuzzugs-Christentum ist ein anderes als das äthiopische Christentum, beispielsweise. Es hat andere Wurzeln und andere historische Bedingungen. Diese Verbindung christlich-europäisch oder christlich-abendländisch sagt nicht sehr viel.In Basra nahm die Gerechtigkeitsbewegung ihren Ausgang im 9. Jahrhundert. Heute herrschen in der Gegend von Basra die War-Lords, hören wir in den Nachrichten. Für mich sind die War-Lords die englischen und amerikanischen Kommandierenden, die völkerrechtswidrig den Irak besetzt haben. Das hat eine lange Tradition. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ist Basra aus der Luft bombardiert werden von den Engländern, dennoch ist es ihnen nicht gelungen, den Süden des Irak zu besetzen. Das wird heute auch nicht gelingen. Es gibt da eine Tradition des Sich-Wehrens gegen Fremdherrschaft. Int.: kawe